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3.2 Biel 1982

Der Westrich-Kalender wird vom Landkreis Kusel (Pfalz) herausgegeben. Darin stehen nette Geschichten aus der Umgebung (z.B. Heimatkunde, Brauchtum und Sitte,...) und im Jahre 1983 schrieb Adolf Weidmann hier einen Artikel über sich, sein Training, seinen 100-km-Lauf von Biel 1982,...
Und ich glaube, es ist ihm hier sehr gut gelungen, sich auf eine größtenteils nicht-laufende Leserschaft einzustellen:

Mir zugeschickt von Eric Tuerlings. (Bedankt, Eric! - und hast du den Absatz über die Medaillen gelesen?) Mit freundlicher Genehmigung des Westricher Kalenders, Kreisverwaltung Kusel. Bericht von Adolf, Rechtschreibfehler vom Steppenhahn ;-))

Der 100-Kilometer-Läufer

- Training, Erfahrungen und Betrachtungen eines Alten -

Von Adolf Weidmann

"Stimmt es, daß sie auch in diesem Jahr wieder in Biel dabeigewesen sind? Sie sind doch über 80 Jahre alt. Wie ist das denn zu schaffen? Ist das Training nicht furchtbar anstrengend und langweilig dazu? Erzählen Sie uns doch einmal von Ihrem Vorbereitungen und Ihren Eindrücken beim Lauf selbst!" Stets entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch, bei dem ich auch über Einzelheiten berichten muß. Warum soll ich daher nicht auch einmal an dieser Stelle das Wort ergreifen?!

Ich blättere in meinen Notizen und greife Aufzeichnungen über einen Trainigsvormittag heraus. Es ist Anfang Januar 1982, 10Uhr früh. Ich starte von meiner Wohnung aus zu einem 20-km-Marsch und Lauf. Das Wetter ist etwas diesig, es ist nicht sonderlich kalt. Während der ersten 20 Minuten marschiere ich zügig bergan, dann setze ich mich in Trab. Wenn ich nach vorne schaue, scheint es, als kämen die Bäume und Sträucher auf mich zu, indes schon 100 Meter weiter Nebelschleier das schlafende Land in eine verträumte Unwirklichkeit versinken lassen. Jedesmal, wenn ich mein Training absolviere, bietet sich mir ein anderes Bild. Wenige Wochen noch, dann wird die Luft erfüllt sein vom zarten Duft der keimenden, sprießenden, sich gen Himmel reckenden Pflanzen und Blumen. Tausendfältiger, jubilierender Gesang der Vögel wird mich begleiten. winzige zarte Blätter an den Zweigen der Hecken, Sträucher und Bäumen werden mir in ihrem jungen Frühlingsgrün beim leisesten Hauch des Windes zuwinken, mir, jenem unentwegtem Wanderer durch Felder, Wälder und Flure diese wunderschönen Pflälzer Landes. - Langweilig? Nein, langweilig ist das Training nicht!

Mein Trainingsgelände ist abwechselnd die hügelige und bergige Gegend um Kusel, den Remigiusberg und Potsberg bis hin nach Neuenkirchen und Fockenberg in Richtung Kottweiler-Schwanden; dann wieder die Gegend um Glan-Münchweiler, Börsborn, Steinbach, Henschtal oder auf Feld- und Waldwegen der Bereich Hüffler, Warnwegen, Konken, etc. Häufig und gern nehme ich auch an Volksmärschen teil, die von den dem Deutschen Volkssportverband e.V. angeschlossenen Vereinen durchgeführt werden. Bevorzugt wird von mir hierbei - falls ausgeschrieben - die Marathonstrecke, die ich stets gemeinsam mit meinem in Weinheim an der Bergstrasse lebenden Bruder zurücklege, der mit seinen 75 Jahren nicht viel jünger ist als ich.

Natürlich besitze ich - neben meinen 100-km-Auszeichnungen - eine Umfangreiche Medaillensammlung von Volksmärschen und -Läufen. Mit zu den originellsten zählt eine Medaille aus Kusel, auf deren Vorderseite der Hutmacherbrunnen abgebildet ist, während die Rückseite folgende Inschrift trägt: "Eich sein vun Kusel, mei Vatter is e Hutmacher, mei Mutter racht e Erdegips, mer sein nit stolz." Bei einem Volksmarsch in Glan-Münchweiler erlief ich mir einmal eine hübsche Medaille mit der Abbildung eines Musikanten in mittelalterlicher Tracht und dem eingeprägten Text "Frischauf ins weite Feld." Stets wenn ich keine Lust habe, mich in Bewegung zu setzen, brauch ich nur zu jenem Dudelsackpfeifer hinzuschielen. Seine unmißverständliche Mahnung, nich einzurosten, bringt mich dann gleich in Trab! Auch eine Ramstein-Roadrunners-Medaille ist typisch, weil auf deren Rückseite eine Art Strauß-Vogel abgebildet ist, der mit weit ausholenden langen Beinen so recht einen Laufrhythmus symbolisiert, wie er einem als ideal nur immer vorschweben kann.


Dr. Adolf Weidmann 1983 Übrigens nicht unerwähnt darf noch eine zweite, von mir häufig angewandte Trainigsmethode bleiben: Das Radfahren nämlich. Hierbei läßt sich häufig das Gute mit dem Nützlichen verbinden, wenn es beispielsweise gilt, in Glan-Münchweiler eine Besorgung zu machen, oder - was trainingshalber noch ausgiebiger ist - in Kusel. Dann schwinge ich mich aufs Rad, und ab gehts über Theisbergstegen, Haschbach nach Kusel und zurück, ohne unterwegs abzusteigen. Dabei wird ein einfaches Damenfahrrad benutzt; es hat keine Gangschaltung, denn der Zweck der Übung ist ja schließlich nicht der, mir das Bergauffahren mittels der Gangschaltung leichter zu machen, dann wäre der Trainingszweck verfehlt. Das ich ausgerechnet ein Damenfahrrad benutze (und kein Herrenfahrrad), hat auch seinen Grund: Bei dem starken Verkehrsaufkommen auf zahlreichen Straßen (die Bundesstraße 423 führt unmittelbar an unserem Hause in Matzenbach vorbei), ist das Radfahren nicht ungefährlich (sofern keine Radwege vorhanden sind). Ich geriet bei meinen häufigen Radtouren nicht selten in gefährlich Situationen, und es kam mir dann beim abspringen vom Rad stets zugute, daß ich ein Damenfahrrad benutzte. Aber nun zurück zum Radfahren als Sport - und ebenso als Ausgleichssport: Wenn ich zum Beispiel über Rehweiler, Quirnbach, Liebstall an Wahnwegen vorbei zum Sangerhof fahre oder nach Herschweiler-Pettersheim ohne auch nur einmal abzusteigen, dann muß ich schon ein gerüttelt Maß an Muskelkraft aufwenden. Mit den Beinen allein, vor allem mit der Oberschenkelmuskulatur schaffe ich das nicht. Da müssen schon Arme und Schultern kräftig mithelfen, um das Fahrrad noch soviel in Schwung zu halten, daß die Pedale auch an den steilsten Stellen in Bewegung bleiben und damit der Trainingszweck erreicht wird. Die Gesamtmuskulatur wird gestärkt!

Jedenfalls bin ich optimal vorbereitet, wenn es gilt, nach Biel zu starten. Meine Frau hat dann alle Hände voll zu tun, bis die Reisetasche gepackt ist, und zuguterletzt muß sie mir noch die Taschenlampe zur Bahnstation nachbringen, damit ich beim Marsch in der Nacht nicht gar noch im Dunkeln herumtappe.

Der Start zum 100-km-Lauf von Biel erfolgt alljährlich in der ersten Junihälfte an einem Freitag, abends um 22 Uhr. Die 100-km-Strecke ist binnen 24 Stunden zurückzulegen. Spätestens bis Samstag abend um 22 Uhr muß man also das Ziel passiert haben, wenn man gewertet und mit einer Medaille ausgezeichnet werden will. Da ich im allgemeinen Freitags gegen 17 Uhr in Biel eintreffe, bleiben noch 5 Stunden bis zum Start. Zunächst belege ich mein rechtzeitig vorher in der Zivilschutzunterkunft Sahligut bestelltes Quartier. Es handelt sich gewissermassen um einen unterirdischen Wohnkomplex, in dem sich ein Unterkunftsraum an den anderen anreiht. Jeder Raum ist mit 18 Doppelstockbetten ausgestattet, kann also 36 Sportler aufnehmen. Die Eisenbetten ranksen und knarren nicht, die Matrazen sind gut, die Wolldecken sauber. Eine Kantine ist auch da. Unermüdlich summen Ventilatoren; sie sorgen über ein weitverzweigtes Rohrsystem für die Zufuhr von Frischluft. Die Wasch-, Dusch- und Toilettenräume sind gekachelt und peinlich sauber.

Eine verwirrende Geschäftigkeit umfängt alle. Die einen verlassen den Raum, um ihre Startkarten zu holen, die anderen sind froh, diese Prozedur hinter sich zu haben. Manche sind auf der Suche nach "ihrem" Bett im falschen Raum gelandet. Die einen ziehen ihre "Klamotten" aus, wieder andere ihre Trainingsanzüge an. Die Füße, Waden und Oberschenkel werden massiert. Manche verkleben ihre Zehen mit Leukoplast, ebenso die Fersen. Da und dort hat eine Gruppe ihren Masseur mitgebracht, der auch die Arme und die Schultern seiner Schützlinge durchknetet. Ein undefinierbarer Geruch tausendfältiger Massagemittel breitet sich aus. Die Ventilatoren arbeiten auf Hochtouren, ihre Zeit ist gekommen. Viel Sportler schlafen oder sie tun nur so, sie "schalten ab". Die meisten nehmen ihre letzte Mahlzeit vor dem Start zu sich und führen lebhafte Gespräche. Die Nachbarn werden gemustert. Ich habe ein Bett in der "oberen Etage" belegt und lasse die Beine baumeln. Mir gilt mancher zweifelnde Blick. Ich kann es an ihren Mienen ablesen: Will der Alte da oben auch mitmachen? Ein verständlicher Gedanke. Schließlich kommt die Frage, "Warst Du schon einmal dabei?" Wenn ich nicke und sage, daß ich schon die große Goldmedaille für 10malige erfolgreiche Teilnahme besitze, ändert sich das Bild schlagartig. Natürlich baumeln meine Beine dann noch lässiger von der Bettkante herab. Aber ich bin mir bewußt, alle nach Biel gekommenen Sportler sind sich bewußt, was an Leistung in den nächsten langen Stunden aufzubringen sein wird. Alle wissen um das Maß an Selbstüberwindung, mit deren Hilfe es überhaupt erst möglich sein wird, jene Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer aufzubringen, die die Vorraussetzung für den Erfolg sind. Unauslöschlich bleibt die Erinnerung an den langen Weg zu nachtschlafender Zeit, wenn in der Dunkelheit nur der eigene Atem zu hören ist und im Unterbewußtsein die Schritte gezählt werden:

       Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte ...
       tausend Schritte, zweitausend Schritte, dreitausend Schritte ...
       zehn Kilometer, zwanzig Kilometer, 30 Kilometer ...
       - wann wohl wird diese Strecke ein Ende nehmen - ...
       97 Kilometer, 98 Kilometer, 99 Kilometer ...!

Nun aber bin ich den Geschehnissen in den Abendstunden vor dem Start zum 100-km-Lauf vorausgeeilt. Zwischen 20 und 21 Uhr am Freitag setzt der große Aufbruch zum Startplatz am Bieler Eisstadion ein. Aus allen Himmelsrichtungen kommen die Läufer. Die PKW-Kolonnen stauen sich. Die Straße, auf der zum Start Aufstellung genommen wird, ist umsäumt von Familienangehörigen, die zum Teil von weit her angereist sind, und von Schaulustigen. Die meisten Teilnehmer kommen aus der Schweiz und aus der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch Sportler aus allen anderen Staaten Europas und aus Übersee, vor allem aus USA, sind in nicht unbeträchtlicher Anzahl anzutreffen. Das Sprachengewirr ist groß, zumal mir Worte in unverfälschtem "Schwizerdütsch" Rätsel aufgeben. Mit zunehmender Dämmerung und vorrückender Uhrzeit wird das Gedränge größer und die Übersicht geringer. Man winkt einander zu und ruft einander zu, obwohl man die zurückbleibenden Familienangehörigen und Freunde längst aus den Augen verloren hat. So gelten die Aufmunterungsrufe denn jedem einzelnen und der Gesamtheit der Teilnehmer. Beim Start um 22 Uhr befinde ich mich etwa in der Mitte des Felds. Die hellerleuchteten Straßen sind umsäumt von Menschen. Auch später um Mitternacht, und weit hinein in die frühen Morgenstunden sehen wir beim Passieren von Ortschaften und unterwegs beim Vorbeimarsch an einsam gelegenen Gehöften Bürger der jeweiligen Heimatgemeinden am Straßenrand stehen, wohl seit Stunden schon, Jahr für Jahr!

Jahr für Jahr stehen sie draußen in der Nacht oder den Tag über, die Helfer an den Getränke- und Verpflegungsausgabestellen, die Kontrollposten, die Mitarbeiter beim Strecken- und Zubringerdienst, die Sanitätsposten, die beim Massagedienst ohne Unterbrechung tätigen Kräfte, sie alle und viele, viele andere, die hier nicht genannt sind. Ob sie sich wohl manchmal fragen: "Habe ich das nötig?!" Oder erfüllen sie ihre Aufgabe nicht einfach so, wie sie sie übernommen haben, wie sie sie stets von neuem übernehmen?! Dank?! Kommen sie wenigstens auf die Idee, daß ihnen die Teilnehmer doch auch einmal Dankeschön sagen könnten?! Nain, ich glaube kaum, daß sie das erwarten. Es sind Sportler, sie alle sind Sportler, ihre Leistungen sind ebensohoch zu bewerten wie diejenigen der Läufer und Marschierer selbst!

Was ich eben ausgeführt habe, gilt nicht nur in Bezug auf den 100-km-Lauf von Biel. Bei allen anderen Sportveranstaltungen ist es ähnlich: deren Durchführung wäre nicht möglich, wenn das große Heer von freiwilligen Helfern und Mitarbeitern sich nicht zur Verfügung stellen würde!


Wenn heute in Biel am 100-km-Lauf alljährlich mehr als 4000 Sportler teilnehmen - darunter etwa 15 v. H. Frauen, deren Leistungen sich mit denjenigen der Männer durchaus messen können - so ist das nicht zuletzt auf Langläufer zurückzuführen, die nicht selten aus der Volkssportbewegung hervorgegangen sind. Beim 100-km Start der trainierten Läufergruppen besteht zumindesten die Gewähr, daß jeder einzelne Teilnehmer auf der einen Seite gelernt hat, seine Kräfte einzuteilen, auf der anderen Seite aber auch bereit ist, dann zu stoppen, wenn sich eine Überforderung der eigenen Leistungsfähigkeit herausstellt. Ganz abgesehen davon kann das Mißgeschick, unterwegs aufgeben zu müssen - aus mannigfachen Gründen - einem jeden von uns auch bei bester körperlicher Verfassung und Kondition passieren. Man denke nur an Verletzungen, die man sich unterwegs zuzieht. In Biel ist eben alles "drin", und anderswo bei 100-km-Läufen, Marathon- und sonstigen Langstreckenläufen natürlich auch. Mit einer gewissen Ausfallquote muß eben immer gerechnet werden; je länger die Strecken werden, umso größer ist die Ausfallquote. Beim 100-km-Lauf von Biel liegt sie im Durchschnitt bei 30 v. H. und bei ungünstigen Witterungsverhältnissen noch höher. Und was ist schon dabei, zu denjenigen zu zählen, die das gesteckte Ziel nicht erreichen?! Liefern nicht gerade diese Sportlerinnen und Sportler den schlagenden Beweis dafür, daß sich alles in Grenzen hält, daß das oberste Gebot respektiert wird, dann aufzuhören, wenn die Gefahr der Beeinträchtigung der eigenen Gesundheit sich abzeichnet! Gewiß, man schreibt gern über die "strahlenden Sieger" sowie auch über diejenigen Teilnehmer, die beim 100-km-Lauf die Ziellinie innerhalb der vorgeschriebenen Zeit von 24 Stunden überschreiten. Wieso eigentlich? Wieso spricht und schreibt man nicht auch von jenen, die - nicht selten unter mancherlei Opfern auch finanzieller Art, auf eigene Kosten - von weither angereist sind und unterwegs aufgeben müssen. Wenn sie einem sagen, daß sie vorzeitig zum Ziel zurückgekehrt sind, und wenn sie dazu schmunzeln oder lachen, hat man vor diesen Sportlern dann nicht gleichermaßen Respekt, zollt man ihnen nicht gleichermaßen Anerkennung?! Wird einem dann nicht eindringlicher denn je bewußt, daß wir alle zu einer verschworenen Gemeinschaft von Sportlern zählen, deren oberstes Ziel es ist, dabei gewesen zu sein?! Es wäre um den Langlaufsport, ebenso aber auch um den Sport in allen Disziplinen und Variationen schlecht bestellt, wenn es anders wäre. Liefen wir dann nicht Gefahr, daß die Freiwilligkeit, die Freude mit Gleichgesinnten, mit Sportfreunden zusammenzusein, darunter leiden könnte?! Der Heiterkeit, dem Lachen, dem Schmunzeln, diesen beschwingten Weggefährten unseres Lebens muß ihr gebührender Platz eingeräumt werden. Das gilt nicht nur für heute, für morgen gilt das noch viel mehr.

Ich brauche nicht zu betonen, daß ich mich nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen selbstverständlich selbst auch richte. So gab ich im vorigen Jahr beispielsweise bei Kilometer 55, also 45 Kilometer vor dem Ziel auf, als sich Magenbeschwerden einstellten. Einige Jahre zuvor hörte ich bereits bei Kilometer 10 auf, also schon kurz nach dem Start, als sich unversehens Schmerzen in den Armen und in den Schultern einstellten, die zum Nacken zogen. Nun soll das natürlich nicht heißen, daß man beim 100-km-Lauf allzu zimperlich sein darf. Man muß schon genau unterscheiden, welche Beschwerden gesundheitsschädifgend sind oder sein können und wo es sich auf der anderen Seite um Wehwehchen handelt, mit denen man eben fertig werden muß. So weiß ich z. B., daß ich mir bei jedem 100-km-Lauf die Zehen verletze und auf "Blasen gepolstert" laufen werde. Aber weil ich das weiß, bleibt mir doch nur die Wahl, entweder von vorneherein auf einen Start zu verzichten, oder die Beschwerden in Kauf zu nehmen. Damit ist auch gleich die häufig an mich gerichtete Frage beantwortet, wie das alles denn auszuhalten sei. Nun, es ist auszuhalten! Der Schmerz ist gewissermaßen vorprogrammiert und einkalkuliert. Anschließend kuriere ich meine Blessuren mit unserem Pfälzer Landschnaps. das ist zwar eine Roßkur, aber sie hilft!

Man verzeihe mir diese Schilderung im Telegrammstil. Es ist ähnlich wie bei der Fußballweltmeisterschaft in Spanien, die eben, da ich diese Zeilen schreibe, stattfindet. Wenn die Spieler bei jeder Verletzung gleich liegengeblieben wären und nach kürzerer oder längerer Pause nicht wieder weitergespielt hätten, wo wären wir dann hingekommen?

Wo wäre ich hingekommen, wenn ich bei meinem diesjährigen Start in Biel am 11./12. Juni 1982 gleich aufgegeben hätte, als ich feststellen mußte, daß mein rechtes Fußgelenk - aufgrund einer Wochen zuvor erlittenen, dann aber vwermeintlich ausgeheilten Verletzung - wieder zu Schmerzen beginnt. Dieses Mißgeschick passierte mir schon kurz nach dem Start, während ich eine abschüssige Straße hinunterlief. Dauerlauf, so stellte sich heraus, konnte ich jedenfalls nicht mehr machen. Dr. Adolf Weidmann in Biel Es blieb mir nur die Wahl, die 100km zu marschieren oder eben zu resignieren und aufzugeben. Nun, ich machte die Probe aufs Exempel, ich marschierte. Bei km 30 kam der kritische Punkt; ich beschloß, eine Pause einzulegen. Aber das war leichter gedacht als getan. Da es regnete, war nämlich bei der Kontrollstelle und dem angrenzenden großen Gasthof hunderte von Sportlern versammelt, die alle trockenen Plätzchen und Winkelchen belegt hatten. Schließlich fand ich Unterschlupf unter dem Vordach eines Schuppens bei einem Gutshof. Dort war es trocken, und ich fand auch einen umgestülpten Korb, auf den ich mich setzte. Nun konnte ich mein geplagtes Fußgelenk massieren (wie ich es schon immer in den zurückliegenden langen Jahren in kritischen Situationen getan hatte). Nach einer Stunde ging es weiter. Bei Kilometer 58, der Verpflegungsstelle Kirchberg, einem kleinen hübschen Städtchen an der Emme, legte ich wieder eine Pause ein, diesmal von 2 Stunden. Nun lagen "nur noch 42 km, die Entfernung einer Marathonstrecke also, vor mir. Das gab mir Auftrieb. Bei Kilometer 72 hörten die Fußgelenkschmerzen plötzlich auf. Ich fragte mich, ob mein Fuß wohl eingesehen hatte, daß es doch keinen Wert hätte, weiter zu jammern, so kurz vor dem Ziel. Ich konnte mein Marschtempo erhöhen. Wie ich aussah? Schlimm, naß und verschmutzt vor allem die Laufschuhe, die Strümpfe und die Füße. Stundenlanger Regen hatte die Wege aufgeweicht, so daß bei jedem Schritt eine trübe Lehmbrühe aufsapschte und durch die Gegend spritzte. Schnellmarsch, die Entfernung schrunpfte von Kilometer zu Kilometer ... 97, 98, 99 Kilometer ... Der Regen hatte aufgehört. Die Straße entlang standen viele Menschen, Bürger Biels, Gäste, Familienangehörige, Zuschauer. Sie begrüßten die Ankömmlinge. Ich hörte, als ich mich dem Ziel näherte, die Stimme der Ansagerin im Lautsprecher: "Mit Startnummer 3649 kommt Adolf Weidmann aus Matzenbach in der Westpfalz an. Dr. Weidmann ist Jahrgang 1901, er hat den 100-km-Lauf von Biel zum 12. Mal erfolgreich beendet."... Klatschen, lauter Beifall... Stimmt es, wurde eben das Jahr 1901 genannt? ... ich winke und lache (so leicht fällt es einem nicht nach all den Strapazen, zu lachen). In Gedanken streichele ich - während ich die letzten Meter zurücklege - mein Bein, mein Fußgelenk. Nun muß ich wirklich lachen, ich komme mir vor wie ein reiter, der seinem Pferd nach einem langen Ritt den Hals streichelt und es tätschelt!

Das Ziel passierte ich um 18:40 Uhr, nach 20 Stunden und 40 Minuten. Ich belegte Rang 2586 bei einer Teilnehmerzahl von weit über 4000.

Abschließend halte ich mich noch für verpflichtet, meine Ausführungen mit einer Mahnung abzuschließen. Nicht selten beobachte ich Trainingsgruppen von 3 bis 5 Läufern mit offensichtlich ganz unterschiedlichem Leistungsstand. Während die einen nämlich ruhig atmend an mir vorbeilaufen, höre ich andere keuchend hinterherhasten, und das gar bei Bergstrecken. Es ist dies eine bedenkliche Art eines vermeintlichen Trainings für diejenigen, die "um jeden Preis mithalten" wollen. Vor allem ist an sämtliche Sportler zu apellieren, die bereits über ausreichendes Können verfügen und wissen, wie sie ihr Tempo einzuteilen haben: Ihnen, diesen erfahrenen Läufern obliegt es, auf ihre leistungsschwächeren, weniger erfahrenen Sportkameraden zu achten und sie davor zu bewahren, daß sie sich beim Langlauf übernehmen und gar Gefahr laufen, gesundheitliche Schäden davonzutragen.


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10643 Zugriffe seit dem 30.11.2001, Stephan Isringhausen-Bley