Tritt ein, bring Glück herein

Stop, leider geschlassen!

 

Norman Bücher zum Grand Union Canal Race (GUCR) (02.06.2009) - Ultramarathon beim Steppenhahn (10.2000)

Zufälliges Zitat

"Ich bin krank, aber nit so krank, dass ich nit 24-stunden laufen könnte"

Stefan Schlett, erkältet in Wörschach

Nächster Ultramarathon

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Norman Bücher , 02.06.2009

Wo bitte geht’s nach London? - Das Grand Union Canal Race von Birmingham nach London

Wo bitte geht’s nach London? Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg? Seit dem Kontrollpunkt bei Kilometer 113 habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Meine Uhr zeigt 1 Uhr morgens. Es ist stockdunkel um mich herum. Nur meine Stirnlampe spendet mir wertvolles Licht. Der helle Mond und die funkelnden Sterne sorgen für eine gespenstische Atmosphäre. Der Wasserweg, dem ich nun schon seit Stunden gefolgt bin, gabelt sich. Dieser Wasserweg ist das dominierende Element bei einem Lauf der besonderen Art. Ich befinde mich beim Grand Union Canal Race, dem längsten jährlich stattfindenden Nonstop Lauf in Großbritannien.

Rückblende. Es ist der 23. Mai 2009, 5:30 Uhr. Ich stehe zusammen mit 86 anderen Läufern in der Gas Street in Birmingham und sehne den Startschuss des Grand Union Canal Race entgegen. 234 Kilometer (145,4 Meilen) liegen vor mir. Ich bin bis dato noch nie so weit am Stück gelaufen. Was wird mich erwarten? Wie lange werde ich unterwegs sein? Trotz dieser kommenden Neuerfahrung bin ich ruhig und freue mich auf die Herausforderung. Ein leichtes Kribbeln verspüre ich dennoch in der Magengegend. Die Sonne scheint schon sehr kräftig für diese Tageszeit und lässt warme Temperaturen für die kommenden Stunden erahnen. Um 6 Uhr erfolgt schließlich der Startschuss. Es geht endlich los!

Ich starte in einem sehr verhaltenen Tempo. Die ersten Kilometer führen auf einem asphaltierten Untergrund links des Grand Union Canals entlang. Auf diesem tauschten schon die aufstrebenden Industriestädte Englands im frühen 19. Jahrhundert ihre Waren aus. Der Fußweg ist nur schmal, es geht eng zu. Immer wieder durchlaufen wir kleine Brücken. Das Läuferfeld zieht sich schnell auseinander. Im Nu bin ich alleine unterwegs. Vorbei an einsamen Wohnsiedlungen und Fabrikhallen verlassen wir schließlich Birmingham und passieren die ersten Wiesen- und Waldabschnitte. Typisch für diesen Lauf. Nach 30 Minuten Laufen folgen zehn Minuten Gehen. Diese Taktik will ich solange wie möglich beibehalten. Doch dieser vorsichtige, kräfteschonende Beginn hat auch zur Folge, dass ich mich nach gut zehn Kilometern auf dem letzten Platz befinde. Auch eine etwas kräftig gebaute Läuferin hat mich soeben überholt. „Lauf weiter Dein Tempo“, sage ich mir. Über 220 Kilometer kommen noch.

Nach 17 Kilometern folgt schon der erste von insgesamt zehn Checkpoints. Jeder „unsupported runner“ hat bei diesen Punkten die Möglichkeit, seine zwei Gepäckstücke (bis zu 25 Kilogramm) mit Wechselklamotten und persönlicher Verpflegung zu bekommen, die er zuvor beim Start in Birmingham aufgegeben hat. Ich halte mich nur kurz auf, fülle meine Wasserblase und ziehe weiter. Es ist angenehm zu laufen. Schattenspendende Bäume und singende Vögel erzeugen in mir ein Wohlgefühl. Ich komme gut voran. Die Wege wechseln von breiten Wanderwegen über schmale Schotterpisten bis hin zu matschigen Trampelpfaden. Doch eines bleibt immer gleich. Es geht immer dem Kanal entlang. Ich treffe Christian und Christine, zwei Läufer aus Hamburg. Christine hat erst im vergangenen Jahr mit dem Ultralaufen begonnen und wagt sich gleich an einen solch anspruchsvollen Lauf. Mein Respekt! Christian verfügt bereits über mehr als 20 Jahre Erfahrung im Ultralaufbereich und hat diesen Lauf schon dreimal gefinisht. Mit ihm zusammen laufe ich viele Kilometer. Hatton, Warwick, Stockton und Braunston, so lauten die nächsten Streckenabschnitte. Die ersten 70 Kilometer vergehen fast wie im Flug. Immer wieder passieren wir imposante und komfortabel eingerichtete Boote, die meist still am Rande des Kanals auf ihre Besitzer warten. Mittlerweile habe ich Platz für Platz gut gemacht. Immer wieder überhole ich Läufer, die sich am Wegesrand ausruhen oder komplett marschieren. Nicht wenige sind schon ganz aus dem Rennen ausgestiegen. Der Samstag neigt sich langsam aber sicher dem Ende entgegen. Es ist kurz nach 21 Uhr, als ich die ersten 100 Kilometer absolviert habe.

Zusammen mit Christian laufe ich dem nächsten Checkpoint entgegen. Dieser ist für mich psychologisch unglaublich wichtig. Über 113 Kilometer habe ich schon zurückgelegt. Bald erreiche ich die Hälfte der Strecke. Zudem ist an diesem Kontrollpunkt ein Zeitlimit zu berücksichtigen, das 19 Stunden beträgt. Meine Uhr zeigt 23:35 Uhr. Ich liege gut in der Zeit. Insgesamt hat man für die gesamte Strecke 45 Stunden Zeit zur Verfügung. Wer länger als 40 Minuten an einem Verpflegungspunkt pausiert, wird aus dem Rennen genommen, so lautet eine weitere Regel. Doch so strikt das Regelwerk auch erscheinen mag, die Helfer und der Organisator bringen einem eine beispiellose Freundlichkeit entgegen. Jeder einzelne Läufer wird liebevoll umsorgt und verköstigt. Die gefüllten Kartoffeln und die gebackenen Bohnen genieße ich in vollen Zügen. Das tut gut! Ich lerne den Wert einer warmen Mahlzeit wieder richtig zu schätzen. Laut Computer habe ich in den vergangenen 17 Stunden fast 7.000 Kalorien verbraucht. Diese gilt es, zumindest ansatzweise, wieder aufzufüllen. Ich laufe alleine wieder los. Ich brauche nun immer länger, bis ich wieder in meinen Laufschritt komme. Die erste Streckenhälfte hinterlässt ihre Spuren. Eine gespenstische Stille umgibt mich. Keine Stimmen weit und breit. Das dunkle Wasser des Grand Union Canals lässt diese Nacht noch unheimlicher erscheinen. Dann gabelt sich plötzlich der Weg. Wo bitte geht’s weiter nach London? Etwas orientierungslos trete ich auf der Stelle. Auch mein Blick auf die Karte bringt keine Klärung. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten. Wie weit bin ich seit dem letzten Checkpoint schon wieder gelaufen? Zwei Kilometer? Drei Kilometer? Glücklicherweise vernehme ich nach ein paar Minuten Stimmen. Gott sei Dank. Zwei Engländer, Christian und Christine erkenne ich. Ich bin dankbar, zu diesem Zeitpunkt des Rennens nicht alleine laufen zu müssen. Die kurzen Dialoge mit Christian und Christine sorgen gerade in dieser Phase des Laufes für eine gelungene Abwechslung. Lauf- und Gehpassagen wechseln sich weiterhin ab. So vergeht Stunde um Stunde. Schneller als erwartet erreichen Christian, Christine und ich den Checkpoint Nr. 6 bei Kilometer 135. Fast 22 Stunden bin ich mittlerweile schon unterwegs. Zum ersten Mal im Rennen erreiche ich einen toten Punkt. Eine große Müdigkeit macht sich in mir breit. Ich lege mich, eingehüllt in meine Rettungsdecke, auf den Boden eines Vans und nicke für ein paar Minuten ein. Die aufkommende Kälte lässt mich keinen Schlaf finden. Ich packe meine Sachen und ziehe alleine weiter.

Als sich beim Verlassen des Checkpoints die ersten Sonnenstrahlen zeigen, bin ich froh, die Nacht gut überstanden zu haben und die Umgebung wieder bei Tageslicht wahrnehmen zu können. Dünne Nebelschwaden erheben sich über die Wiesen und über das Wasser und sorgen für eine überwältigende und gleichzeitig unheimliche Atmosphäre. Allmählich gehe ich wieder in meinen Laufschritt über. Gut 25 Kilometer bis zum nächsten Kontrollpunkt, denke ich. Ich konzentriere mich immer nur auf den nächsten Verpflegungspunkt und erhalte damit eine ganz andere Einstellung zu dieser gewaltigen Distanz. Ein bisschen mehr wie ein Halbmarathon, sage ich mir immer wieder. Das klingt doch machbar. Überschaubarer jedenfalls als die gut 100 Kilometer, die noch vor mir liegen. Doch die Strecke zieht sich in dieser Phase gewaltig. Die Monotonie der Umgebung, die immer wiederkehrenden fast gleichen Landschaftseindrücke und der endlos erscheinende Kanal lässt meine Stimmung sinken. Die Einsamkeit trägt auch ihren Teil dazu bei. Meine harte Oberschenkelmuskulatur lässt die Laufpassagen immer kürzer werden. Ich kämpfe mich Kilometer für Kilometer voran. Die Sonne scheint immer kräftiger und beschert uns für englische Verhältnisse hochsommerliche Temperaturen. In den vergangenen zwei Jahren hat es spätestens auf diesem Streckenabschnitt immer geregnet. Welch ein Kontrast in diesem Jahr!

Schließlich erreiche ich das nächste Teilziel, den Checkpoint Nr. 7 bei den Grand Junction Arms. Fast 100 Meilen habe ich schon zurückgelegt. Nach einer reichhaltigen Mahlzeit, bestehend aus gebackenen Bohnen mit Schinken und Kuchen, begebe ich mich wieder auf die Strecke. Über 28 Stunden bin ich jetzt schon fast ununterbrochen auf den Beinen. Auf einmal überfällt mich eine plötzliche Müdigkeit. Als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Ich lege mich auf eine Wiese am Wegesrand und schlafe für 20 Minuten fest ein. Erst der Weckton meines Handys signalisiert mir weiter zu laufen. Mental fühle ich mich wieder topfit. Ich bin immer wieder erstaunt, was solch ein Power Nap bewirken kann. Vor mir erblicke ich einen Läufer, der ebenfalls mit sich zu kämpfen scheint. Ich laufe auf ihn auf. Es ist Andy aus England, der dieses Rennen bereits sechsmal in Folge erfolgreich beenden konnte. Ihm tut das sonnige Wetter in diesem Jahr gar nicht gut. Wir laufen zusammen. Einmal übernimmt er die Führung, das andere Mal ich. Andy läuft als „supported runner“. Das bedeutet, dass er seine eigene Crew hat, die ihn begleitet. Diesen Luxus lerne ich zu schätzen, da seine Crew an mehreren Streckenabschnitten auf ihn wartet und auch mir mit Getränken aushilft. Die Temperaturen steigen auf 28C und haben einen erhöhten Flüssigkeitsbedarf zur Folge. Den Großteil der Wege laufen wir in der prallen Sonne. Bei diesem Wetter sind auch zahlreiche Einheimische auf dem Fuß- und Wasserweg unterwegs. Aufmunterndes Klatschen, ungläubiges Staunen und Anfeuerungsrufe begleiten uns immer wieder. Allen gemein sind ein großes Interesse an unserer sportlichen Leistung sowie kleine und freundliche Gesten. Doch trotz dieser gelungenen Ablenkung will der nächste Checkpoint einfach nicht kommen. Die Minuten ziehen sich wie Stunden. Bei jedem Sonnenschirm und kleinerer Menschenansammlung hoffe ich, den nächsten Verpflegungspunkt auszumachen. Doch Fehlanzeige. Andy und ich spulen weiter Kilometer für Kilometer ab. Meine Gedanken fokussieren sich nur auf den jeweils nächsten Schritt. Und dann erscheint er endlich, Checkpoint Nr. 8 an der Springwell Lock. Über 193 Kilometer habe ich jetzt schon in den Beinen. So viel bin ich noch nie zuvor an einem Stück gelaufen. Das meiste waren bisher die 166 Kilometer am Mont-Blanc. Jetzt liegt nur noch ein bisschen mehr wie ein Marathon vor mir. „Das schaffe ich auch noch“, sage ich mir. Ich laufe wieder auf Andy auf. Was heißt hier laufen? Bis ich in meinen Ultraschlappschritt komme, marschiere ich die ersten Meter. Das „normale“ Laufen fällt mir jetzt unglaublich schwer. Wie schon vorher vom Renndirektor angekündigt, ist auf dem kommenden Streckenabschnitt ein Teil des Grand Union Canal Fußweges gesperrt, was eine Umleitung mit vier zusätzlichen Kilometern zur Folge hat. Was sind schon vier Kilometer bei einer Distanz von über 234? Diese Umleitung führt uns mitten durch das hektische China Town von Hambrough Tavern. Andy und ich sind heilfroh, als wir wieder auf dem ruhigen Kanalweg sind und den letzten Checkpoint vor dem Ziel erreichen. Nur noch ganze 19 Kilometer trennen mich jetzt noch von der Ziellinie. Es ist fast 20 Uhr. Die Temperaturen sind nun merklich angenehmer. Fast wie in Trance laufen bzw. marschieren wir den letzten Teil der Strecke. Dieser Abschnitt zieht sich noch einmal gewaltig. London will einfach nicht näher kommen. Kein Hochhaus, kein Verkehr. Nichts, was auf die Nähe einer Großstadt hinweist. Wir laufen weiterhin immer auf unserem Weg am Wasser entlang. Ich konzentriere mich nur noch auf die Beine von Andy, der gerade vor mir läuft. Wir sind beide nahe an der Grenze des Belastbaren. Andy sagt mir später, dass dies sein härtester Grand Union Canal Lauf gewesen ist. Es wird wieder dunkel. Die zweite Nacht bricht an. Die ersten Vororte von London tauchen allmählich auf. Der Geräuschpegel steigt langsam. Ein Schild signalisiert uns: noch 6 Meilen. Ich hole zum wiederholten Mal einen Riegel aus meinem Rucksack. Ein kurzer Energieschub für die letzten Kilometer. Ich sehne das Ziel herbei. Es wird immer lauter. Wir erreichen London. Dann die allerletzte Meile. Die letzten 1,6 Kilometer. Wir erhöhen noch einmal das Tempo. Aus dem Schlappschritt wird urplötzlich wieder ein flotter Laufschritt. So, als hätten wir gerade erst angefangen zu laufen. Alles läuft wie von selbst. Glücksgefühle durchströmen meinen Körper. Dann sehen wir auf einmal die Ziellinie am Little Venice und sprinten noch die letzten Meter.

Nach 40 Stunden und 56 Minuten stoppe ich meine Uhr. Ich bin wie berauscht. Andy ich umarmen uns und gratulieren uns zu dieser grandiosen Leistung. Meine Freundin und ich fallen uns danach ebenfalls in die Arme. Ein langer, bewegender und erlebnisreicher Lauf geht zu Ende. Aus den offiziellen 234 Kilometer sind in diesem Jahr am Ende 238 geworden. Von den 87 gestarteten Läufern erreichen nur 34 das Ziel. Die Ausfallquote liegt also bei 61 Prozent. Doch ich habe den langen Weg geschafft, den Weg nach London.



Mehr Informationen zu den Läufen, den Vorträgen und Seminaren von Norman Bücher unter http://www.norman-buecher.de/

© Norman Bücher, 02.06.2009

Weitere Info's und Berichte zum Lauf:


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