Tritt ein, bring Glück herein

Stop, leider geschlassen!

 

Berichte - Ultramarathon beim Steppenhahn (11.2001)

Bottroper UltraDer 50-km-Flug

Ich bin den Ultra von Bottrop geflogen. Punkt.

Diesen prägnanten Laufbericht wollte ich bei Stephan abgeben Vielleicht bringt er den Einzeiler auf seine schönen steppenhahn-Seiten, dachte ich mir. Da sagt er plötzlich: "Also ein Bericht ist nur gut, wenn er über den Tiefpunkt erzählt, über den Durchhänger, das Leid. Das wollen die Leute lesen, das ist spannend!" Und im selben Moment fragt mich Frank anklagend: "Hast Du denn gar keinen Tiefpunkt gehabt?!" Blitzlichtartig erinnere ich mich an eine Bergtour auf der ich strahlend verkündete: "Ich habe wirklich keinen toten Punkt gehabt", woraufhin ein anderer brummte: "Ja, ja, aber du bist unser aller toter Punkt..." Das soll mir nicht noch einmal passieren, also antworte ich schnell: "Ja, doch natürlich, totale Tiefpunkte....!" Das ist auch die Wahrheit, ich habe wirklich ganz schrecklich gelitten. Das kann ich fast gar nicht alles aufzählen was einem auf 50km alles für Leid widerfahren kann. Nur habe ich so einen mentalen Filter, der löscht das. Permanent. So eine Art Festplatten-Waschlappen, der quasi alle paar Minuten die Speicher durchgeht und alle Dateien radikal weg wäscht, die mit "Scheiße", "Das mach ich nie wieder" oder "Wie lange geht das noch?" anfangen. Sofort weg. Unberührt lässt er die Dateien mit den Juchzern: "Was für eine Landschaft!" "Was für wunderbares Wetter!" "Was für reizende Menschen!" So stehe ich also zuletzt mit einem Speicher voller Begeisterung auf dem Siegertreppchen. "Wahrscheinlich hast du den zweiten Platz deiner Altersklasse nur gewonnen, weil es nicht mehr als zwei Frauen deines Alters gab" wirft Stephan ein. Auch das wird wieder einmal sofort gelöscht. Was bleibt, ist eine Urkunde, ein Taschenrechner und das Gefühl mal ganz vorne mitgemischt zu haben. Ich jubele: "Es ist schon erstaunlich, dass die Leute im vorderen Feld auch so wahnsinnig nett sind, das wusste ich ja gar nicht, ich dachte die sind viel verbissener!" Und Stephan vermittelt mir einen Hauch Realität indem er mich erinnert, dass ich mit meinen 4 Stunden 56 Minuten nicht wirklich ganz vorne mit gemischt habe. Egal, ich bin unterdessen überzeugt, dass die Menschen, die sich in Bottrop treffen alle wunderbar sind und im Vergleich zu meinen bisherigen Läufen war ich ganz vorne. Ich habe mich quasi selbst überholt. Auslöser dafür war natürlich doch wieder Stephan, der mit Blick auf mein neongelbes Kappi kurz vor dem Start meinte: "Also das muss ich mir überlegen, ob ich mit so jemand laufe." Dabei finde ich meinen neuen Hut ganz wundervoll und ein charmanter Mitläufer meinte unterwegs immerhin: "Der Hut ist wirklich geil!" Nun ja, soll Stephan also überlegen, ob ihm das gefällt, unterdessen, laufe ich schon mal los und dank Sabine von passt scho98 habe ich eine plaudernde Begleitung, die sicherlich vieles ist, aber bestimmt nicht langsam. Also reden wir, genießen die Landschaft und überholen. Sabine erinnert mich zwar gelegentlich, dass es meine Entscheidung ist, ob wir jetzt überholen, weil sie vielleicht doch vage ahnt, dass ich noch nie in meinem Leben so schnell gelaufen bin, aber ich habe bereits das Gefühl zum Bremsen mehr Energie zu brauchen, als zum Laufen. Also wird gelaufen. Ohne Bremse. Und es geht wirklich die ganze Zeit bergab. Ich könnte schwören, dass es die ganzen ersten 25km bergab geht. Dann sagt Sabine sie hat sich jetzt warm gelaufen, fliegt von dannen und irgend jemand hat das Profil umgedreht: Es geht plötzlich zügig bergauf. "Innenkurve laufen spart Kraft" hat mir Sabine am Anfang noch erklärt, dachte ich noch, was meint sie denn, die paar Zentimeter spielen doch gar keine Rolle. Aber auf Lauf Teil II erinnere ich mich doch immer wieder an Sabines Worte und finde irgendwie, dass sie Recht gehabt hat, dass man seine Energie wirklich nicht unnötig verschwenden muss. Ansonsten denke ich natürlich viel an Stephan, wann er mich wohl überholt und wie wir dann die letzten Kilometer seine Pulsuhr beobachten und uns über unseren Herzschlag freuen.

Bei Kilometer 33 meldet sich mein Magen. Es ist Mittagszeit und er hat Hunger. Ich tröste ihn eine Weile und als mir gerade nichts anderes mehr einfällt als: "Du hast Recht, es ist wirklich Zeit zu essen" da taucht eine achtarmige Fata Morgana aus dem Hungernebel auf, jubelt mir zu als hätte sie meine Gedanken gelesen und würde sich genauso freuen wie mein Bauch, dass ich den Stand erreicht habe. Es gibt Wasser, Tee und Bananen, wunderbare Bananen, wirklich ganz köstliche, zarte, weiße, honigsüße Bananen. Mein Leib- und Magengericht. Nur in diesem Moment, aber das genügt ja auch. Danach geht es frisch gestärkt wieder leichter voran, ich denke an alles Mögliche und habe zwischenzeitlich den Verdacht ich hätte mich vor lauter Denken vielleicht verlaufen, denn ich bin ganz allein auf der Strecke. Aber irgendein weißer Pfeil, ein lächelnder Mensch bestätigen mir wieder, dass alles in Ordnung ist und also trabe ich glücklich weiter.

Und dann der Tiefpunkt. Ja, wenn ich meinen Sicherungsspeicher durchsehe, kann ich auch etwas über den Tiefpunkt berichten. Er beginnt bei Kilometer 43 und dauert fast 5 Kilometer. Das ist eine Zeit in der ich denke, jetzt wollte ich aber gar nicht von Stephan überholt werden, im Ende könnte ich nicht Mal lächeln. Außerdem versagt auch Stephans Lauf-einfach-schneller-Methode, die ich heute erstmals angewandt habe: Sobald ich ermüde gebe ich mir einen Schubs und laufe eine Weile schneller. "Dann bist Du schneller da und kannst dich ausruhen". So hatte mir Stephan das früher erklärt und irgendwie ist das ja auch logisch. Aber bei Kilometer 45 funktioniert das nicht mehr. Ich werde langsamer, träger, müder, gebe mir einen Schubs, renne ein paar Schritte flotter und dann fühlt es sich an wie Getriebeschaden. Gehpause.

Also umdenken. Bei Kilometer 45 umzudenken, das ist gar nicht so einfach. Körperliche Erschöpfungserscheinungen sind das eine, aber mentales Ermüden ist quasi der Tiefpunkt schlechthin. Ich denke mühsam: "Ich muss jetzt einen neuen Rhythmus finden" und gleichzeitig stürzt mein mentales Gebäude zusammen wie ein Tiefflieger im Landeanflug: "Ich will überhaupt nicht laufen, ich will einfach ankommen." grunzt es aus meinem Gehirn. Ach so ist das. Aber plötzlich habe ich doch eine Haltung, einen Schritt, der wieder von alleine geht, möglicherweise sehe ich nicht mehr so ganz entspannt aus, aber es rollt. Schon lächelt auch wieder jemand vom Wegesrand: "Noch 1000 Meter, noch tausend kleine Schritte" sagt er. Prompt fange ich an, meine Schritte zu zählen, darüber nachzudenken, ob ich mit diesen Balletschrittchen wirklich jeweils einen Meter bewältige. Ich bin ohnehin nicht so gut in Mathematik, aber bei Kilometer 49 stört mich das dann nicht mal mehr. Jedenfalls höre ich gleich wieder auf zu zählen, zu rechnen, laufe weiter und habe kurz darauf wieder zwei nette Herren an meiner Seite. Sie sagen: "Super, Du schaffst es unter 5 Stunden". Ich wundere mich, wovon sprechen die, denn ohne Stephan und die Pulsmesseruhr bin ich quasi zeitenlos. Aber im Ziel erwarten mich nun wieder ein paar liebe Menschen, die erledigen auch das mit der Zeit, tatsächlich 4Stunden56, Bernd sagt "Herzlichen Glückwunsch" und als ich am Getränkestand den ersten Becher über den Tisch gieße, heißt es nur: "Das kann ja mal passieren." Schon habe ich einen neuen Becher in der Hand. Ultraläufer sind, so scheint mir, eine Art Prinzen und Prinzessinnen. Allerdings gibt es keine Sänfte, die mich zu den Duschen transportiert, das muss ich selber bewältigen. Kein großer Andrang bei den Damen und das Wasser wunderbar heiß. Schon wieder ein Genuss. Der vorerst letzte Tiefpunkt des Tages ereilt mich noch, als ich vor den Duschen auf Stephan warte, der nicht lange nach mir eingetroffen ist. Es dauert und dauert und ich ziehe einige Minuten in Erwägung, dass er mit allen anderen Freunden bereits gegangen ist und ich hier nun ganz vergeblich warte. Dann durchdenke ich die Möglichkeit er könnte in der Dusche ertrunken sein. Wie gesagt, ich bin mental zu diesem Zeitpunkt schon etwas verbraucht. Aber schließlich taucht Stephan doch auf und es sieht so aus, als ob er sich genauso freut wie ich. Über den Tag, den Lauf und unser Wiedersehen nach 50Kilometern. Ich habe jetzt aber auch das Kappi nicht mehr auf.

Danach hat es sich erledigt mit den Tiefpunkten. Wir essen Sabines Kuchen, holen unsere Urkunden und werden von Frank schließlich noch bis Wattenscheid gebracht. Die Bahnhofstreppe stellt noch eine starke mentale Herausforderung dar und ich stelle die These auf, dass man einfach ohne Beine Treppen steigen kann. "Es ist mir klar, es ist mir vollkommen klar" sagt Stephan und so erreichen wir teils schwebend, teils humpelnd auch unsere letzte Zieletappe. Vom Bahnhof wandere ich dann die drei Kilometer ganz gemütlich zu Fuß nach Hause und erleide den ultraletzten Tiefpunkt, als der Mülleimer bei der nächsten Apfelsinenschale überläuft. Um den Müll zu entsorgen muss ich in den Garten. Ich wohne im vierten Stock, ohne Fahrstuhl. Deshalb komme ich relativ schnell mit mir überein, dass Tiefpunkte das Leben erst spannend machen, und ein kleiner Müllplatz in der Küche wirklich zu tolerieren ist. Schließlich bin ich die 50km heute nicht einfach so gelaufen, sondern gegen Terror und für den Frieden. Und den Frieden mit mir selbst habe ich heute jedenfalls gefunden.


© Verena Liebers, November 2001
vigli@web.de

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