Bernhard Sesterheim , 22. Januar 2004

Stadtmarathon Düsseldorf am 04.05.2003

und

Ein ganz besonderes Erlebnis danach

Es ist ein schöner und sonniger Morgen, als ich Stunden vor dem Marathon­beginn die Auto­bahn verlasse und in Düsseldorf einfahre, eine Stadt, die mir völlig fremd ist. Heute am Sonntag fließt der Autoverkehr nur spärlich, was mir ganz sympathisch ist.

Nach wenigen Minuten erreiche ich die Altstadt und bemerke sofort einige Marathonläufer­typen, die zu Fuß unterwegs sind. Aha, denke ich, bis zum Startbereich kann es nicht mehr weit sein. Überall sind freie Stellen an kleinen Stichstraßen, wo man kosten­­frei parken kann. Gerne nehme ich diese Gelegen­heit wahr und stelle mein Auto in einer Einbahnstraße vor einer Kneipe ab. Vor der Einbahnstraßeneinmündung ist mir ein Schild "Joseph Beuys Haus" aufge­fallen. Dieses Haus, nach einem der berühmtesten Söhne dieser Stadt benannt, soll mir nun als Orientierungs- und Auto­wiederfindungsobjekt dienlich sein.

Das Merken des Straßennamens ist nicht notwendig denke ich, denn ein jeder Düssel­dorfer kennt sicherlich diesen Platz.

Frohgemut schlendere ich durch die Altstadt und nach ca. 30 Minuten erreiche ich den Rhein­uferplatz, an dem sich Start und Ziel befinden. Noch über 1 ½ Stunden sind es bis zum Start und schon sind viele Läufer beiderlei Geschlechts hier versammelt, darunter viele Novizen, wie ich aus ihren Gesprächen entnehmen kann, die teilweise nervös auf den Beginn ihres großen Abenteuers warten. Manche stretchen schon und einige joggen durch die Gegend, ein Ritual, wie man es vor jedem Großstadtmarathon beobachten kann, aber mich immer wieder aufs neue fasziniert.

Ich habe mich bereits zu Hause läufermäßig gekleidet, kurz, alles in schwarz mit meinem Markenzeichen "schwarze Legionärsmütze", die mir auch beim Marathon des Sables vor etwa 14 Tagen wertvolle Dienste geleistet hatte. 2,00 € und den Auto­schlüssel habe ich dabei.

Da mir bei Großstadtmarathons das anschließende Gedränge in den Duschräumen missfällt, verzichte ich auf das Duschen danach und so kann alles sonstige im Auto verbleiben.

Pünktlich wird dann auch der Startschuss abgefeuert und eine Heerschar von mehreren tausend Läufern setzt sich erwartungsfroh in Bewegung. Wie immer in der letzten Zeit starte ich weit hinten, um nicht den Slalomüberholern im Weg zu sein. Nach ca. 8 km bin ich eingelaufen und alles ist wunderbar, den MdS scheint mein Körper schon vergessen zu haben. Mittlerweile ist es recht warm geworden, wie im vergangenen April morgens in Marokko, nur wesentlich luftfeuchter. Ich freue mich schon auf die Verpflegungsstelle, die doch bei km 10 kommen soll.

Es gibt da auch einen zig-Meter langen Stand, jedoch völlig ohne Wasser und Becher, nur leere Wasserwannen stehen da. Außer einem jungen Mann, der heftigsten Anfeindungen von Seiten der Läufer ausgesetzt ist, verweilt niemand mehr dort. Die übrigen scheinen "Fahnen­flucht" begangen zu haben. Mein Gaumen ist bereits trocken, tröste mich aber mit dem Gedanken, sehr bald nach weiteren 5 km trinken zu können.

Ich beschleunige jetzt mein Tempo und überhole viele, mit dem Hintergedanken, nicht zu den letzten zu gehören, die von den Hunden gebissen werden; in diesem konkreten Fall kein Wasser mehr zu bekommen. Mittlerweile bin ich im vorderen letzten Drittel und es sind 15 km geschafft. Und tatsächlich eine neue Verpflegungsstelle kommt in Sicht. Von weitem höre ich aber schon wieder Geschrei von erbosten Läufern. Als ich näher komme, sehe ich zwar Wannen mit Trinkwasser, aber es sind keine Plastikbecher mehr vorhanden. Ein würdiger älterer Herr, anscheinend ein pensionierter Bundeswehroffizier, nimmt mir meine Reklama­tions­arbeit ab, indem er einen der wenigen am Stand verbliebenen Helfer anbrüllt, dass die Tische wackeln.

Weiter geht’s, der Mund ist jetzt absolut trocken, ein sicheres Zeichen, dass der Dehydrie­rungs­prozess schon begonnen hat. Jetzt laufe ich einen Sanitätswagen an und bitte das Rot-Kreuz-Personal um einen Schluck Wasser. Ich muss hören: "Wir haben kein Wasser mehr, aber wir können Dir eine Infusion geben." Dankend verzichte ich , denn noch bin ich bei Verstand und auch körperlich einigermaßen heil

Überall sind jubelnde Zuschauer, es gibt schöne Musik und ich laufe halt mit trockenem Mund weiter. So richtig freuen, wie sonst bei diesen Streckenkilometern zwischen 15 und 25, kann ich mich logischerweise nicht. Nach etwas mehr als 2 Stunden ohne Wasser, kommt bei km 20 die erste funktionierende Verpflegungsstelle. Es gibt jetzt Leitungswasser satt und ich mache ausgiebig Gebrauch von diesem Angebot und saufe wie ein Dromedar. Es gibt weder Iso, noch Cola, noch Mineralwasser, nur Wasser. Mir wird jetzt richtig bewusst, wie geizig die Düsseldorfer Marathonorganisation doch eigentlich ist. Zu zahlen war die übliche hohe Großstadtmarathongebühr, die Gegenleistung steht in überhaupt keinem Verhältnis dazu. Anscheinend hat sich der Veranstalter von dem dümmlichen Werbespruch leiten lassen:

"Geiz ist geil!"

Nun gut, die Zuschauer sind freundlich und sehr applausgelaunt, was so das Läuferherz höher schlagen lässt. Die Verpflegungsstellen sind jetzt alle reichlich mit Wasser bevorratet, Dehy­drationsprobleme treten keine auf und ich laufe freudestrahlend nach etwas mehr als 4 ½ Stun­­den, vom ohrenbetäubenden Applaus tausender Zuschauer begleitet, an der Rhein­promenade bei einem wahren Mai-Bilderbuchwetter ins Ziel.

Dort sind Biergärten und ich stoße mit einem Kameraden, den ich während des Laufs kennen gelernt habe, mit einem Pils an. Wie immer nach einem Marathon bin ich in euphorischer Stimmung und unterhalte mich bestens.

Auf das Trinken von mehr als 2 Bieren lasse ich mich aus Führerscheinerhaltungsgründen nicht ein und breche auf. Ich frage noch nach dem kürzesten Weg zum Joseph-Beuys-Haus und höre: "Ja, gerade über die Straße, dort ist das Joseph-Beuys-Museum." "Nee, nicht J-B-Museum, ich meine das J-B-Haus." Zuerst herrscht Stille, dann sagt er, dass er erst seit 10 Jahren in Düsseldorf wohne, er aber soeben einen Bekannten gesehen hat, der in Düsseldorf geboren ist. Den will er fragen, steht auf und geht zu ihm. Leider kennt auch er nur das J-B-Museum.....

Au, was ist das? Bin ich etwa schon altersstarrsinnig geworden? Die Nach-Marathoneuphorie schwindet zusehends. Etliche Leute befrage ich weiterhin, jedoch erhalte nur negative Ant­worten. Ein Polizist befragt freundlicherweise den Zentralcomputer, aber oh je, "Unbekannt, gibt es nicht!" muß ich vernehmen.

Ich befinde mich nun in einer für mich wirklich höchst unangenehmen Situation und fange mit der Suche an. Zuerst bewege ich mich in die Himmelsrichtung, von der ich glaube, heute Morgen hergekommen zu sein und quere viele kleine Straßen in der Altstadt, komme an vielen Straßenlokalen vorbei, wo altbiertrinkende Düsseldorfer mir zuprosten und applau­dieren, denn ich trage ja noch immer meine Läuferkleidung mit Starternummer. Die schwarze Kappe ist durch das viele Salzausschwitzen ziemlich geweißt. Anfangs freue ich mich sogar noch etwas über den Applaus, muss aber auf die Zuschauer jetzt sehr spaßig wirken. Hin und wieder frage ich einen Passanten nach dem Josef-Beuys-Haus, doch immer erhalte ich die gleiche Antwort: "Unbekannt."

Seit über 2 Stunden irre ich so durch die Stadt und entferne mich immer mehr vom Rhein, komme in eine Gegend, wo ich mir sicher bin, hier nie gewesen zu sein und kehre um. Jetzt bekomme ich Durst und auch der Appetit meldet sich. Doch das einzige, was ich dabei habe, ist der Zündschlüssel meines Autos. Es ist zum Heulen, ich bin völlig mittel- und orientie­rungs­los.

In einer öffentlichen Toilette stille ich meinen Durst, indem ich aus dem Wasserhahn trinke. Ich weiß weder ein noch aus.

In meiner Not spreche ich einen Taxifahrer an, schildere ihm mein Problem und erkläre ihm, dass das Joseph-Beuys-Haus ein Jugenstilgebäude mit roten Klinkern, umgeben mit vielen Platanen, darstellt. Er meint, wenn man vom Flugzeug aus Düsseldorf betrachtet, sieht es in 70 % der Fläche so aus.

O.K. Er schlägt mir vor, mit mir zu der Autobahnabfahrt zu fahren, wo ich hergekommen bin, um von dort meine Fahrtstrecke nachzuvollziehen. Eine fürwahr gute Idee und es keimt Hoffnung auf. Am Anfang kann ich tatsächlich meine Altstadteinfahrt nachvollziehen, doch dann werde ich wieder orientierungslos. Es ist so, als hätte mir jemand Gehirnteile entfernt.

Ich spreche auf den Fahrer ein, dass er sich darauf verlassen kann, bezahlt zu werden. Er ent­gegnet mir, er sei Menschenkenner und sei absolut sicher, von mir sein Geld zu bekommen. Allerdings, vergangene Woche wäre bei ihm ein junger Mann eingestiegen, mit kurzen Hosen, vom Knöchel bis zum Oberschenkel tätowiert, ja sogar im Gesicht, er hätte gestunken wie ein Ziegenbock und wollte zu seiner Großmutter nach Erfurt in Thüringen gefahren werden. Er sollte ihm Geld zeigen, worauf er dann einen 10,00 €-Schein präsentierte. Die Fahrt fand nicht statt.

Er fragt nach meinem Lebensalter und ich nenne sie ihm. Nun soll ich raten, wie alt er ist. Ich schätze ihn 7 Jahre älter als mich, in Wirklichkeit ist er 10 Jahre jünger als ich selbst. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen und bitte ihn um Entschuldigung. Er meint jedoch ich hätte Recht, er sähe wirklich alt aus, er fahre jeden Tag über 12 Stunden Taxi, rauche zu viel, esse jede Menge Junk-Food und treibe überhaupt keinen Sport. Aus Rumänien stamme er und wäre vor über 20 Jahren vor dem Despoten Cheauchesku geflohen. Jetzt hat er eine vage Hoffnung, irgendwann wieder in seine Heimat zurückkehren zu können.

Er fährt in alle möglichen kleinen Seitenstraßen, doch alles ist unbekannt. Fast kommen mir die Tränen, ich schäme mich und komme mir äußerst blöd vor. Ich bin vollkommen hilflos. Und trotzdem habe ich Glück, an diesen Mann geraten zu sein, denn er ist seriös und nutzt meine Notlage nicht aus. Immer wieder macht er mir Mut. So fahren wir ungefähr eine Stunde durch Düsseldorf und ich werde immer kleinlauter.

"Ich weiß jetzt überhaupt nichts mehr", gebe ich ihm zu verstehen, als er mich wieder nach weiteren Details fragt. "Es gibt jetzt nur noch eine Chance, ich fahre jetzt direkt auf die Parallelstraße zur Rheinuferstraße. Wenn wir dann nicht fündig werden, weiß ich nicht mehr weiter."

Nach wenigen Minuten kommt mir plötzlich die Gegend bekannt vor. Hurra, ich sehe meinen Wagen und könnte heulen vor Glück. Ich hatte mich also schon von Anfang an verlaufen, ca. 100 m vor dem Start hatte ich das Auto geparkt! Er berechnet mir für fast eine Stunde Fahrt 60,00 € und ich lege noch etwas dazu. Wir umarmen uns beim Abschied wie alte Freunde.

Auf der Autobahnraststätte Brohltal bei Koblenz nehme ich noch ein köstliches vegetarisches Gericht ein und bin eine Stunde später wieder daheim.

Lange habe ich gezögert, dieses Marathonerlebnis der besonderen Art zu Papier zu bringen, denke aber, dass es für manche Leser von Interesse ist, denn wie heißt es aus dem Munde Heinrich Heines so schön: "Treffen wir einen, der klüger ist als wir, macht uns das ganz selten nur Plaisir, doch treffen wir einen, der ist dümmer, so freut uns das immer!"

PS: Das Schild "Joseph-Beuys-Haus" entpuppte sich am besagten Jugendstilbau als vorüber­gehend angebrachtes Transparent.


© Bernhard Sesterheim, 22. Januar 2004