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Wigald Boning , 28. Juni 2004Heidiwitzka!
...mit Betonung auf Heidi, denn: Letztes Wochenende war ich in der Schweiz.
Und zwar im schönen Graubünden, um am gleichnamigen Marathon teilzunehmen.
Das letzte grosse Bergtraining hatte mich ja noch ein wenig skeptisch gestimmt, denn ab 1800 Meter liegt alpenweit noch eine dicke Ladung Altschnee herum, und der ist bekanntlich der ärgste Feind des leichten Laufschuhs. Aber nachdem ich auf der Homepage des Veranstalters von einem (freiwilligen?) Schaufeleinsatz des Heeres gelesen hatte, packte ich mein Reisetütchen und meine Familie ins Auto und los ging´s nach Lenzerheide, Hochburg der MTBler, Skihasen und Freunde des ausführlichen Bergauflaufs (Hm. Liest sich ein bißchen wie Nudelauflauf. Seltsam).
Das angenehme Hotel "Schweizerhof" möchte ich gleich mal als besonders kinderfreundlich hervorheben:
Es gibt erstklassige Spielmöglichkeiten für die Kleinen, und die begeisternde Kinderbetreuung würde auch alleinerziehenden Athleten/innen einen problemlosen Start erlauben.
Mein Nachwuchs wurde in die Welt der schweizerischen Comic-Legende "Globi" eingeführt (ist in D weithin unbekannt, aber in CH sozusagen zivilisatorische Grundausstattung), tobte sich unter kompetenter Anleitung an einer Kletterwand aus und drängt nun auf einen erneuten Start des Papas im nächsten Jahr.
Abends ließ ich mir von freundlichen Fachkräften im Verkehrsverein meine Startunterlagen aushändigen.
Im Chipbeutel: U.a. eine Schachtel Spaghetti. Gute Idee. Da fiel mir ein, daß mir mal die Biathletin Uschi Disl in der "WIB-Schaukel" erzählte, sie würde vor jedem Rennen morgens um 3 aufstehen, eine Großportion "Nudeln ohne alles" im mitgebrachten Elektrotopf kochen, verzehren und wieder einschlafen.
Apropos: Ich entschlummerte, noch bevor Rehagel die Franzosen aus der EM kicken konnte.
Am nächsten Morgen ließ ich meinen Anhang liegen und schlurfte zum Postbusbahnhof auf der anderen Seite der Strasse.
Blick zum Himmel: Ein Traum in blö. Ganz leichte Wölkchen überwölben die geweißten Gipfel.
Watt soll ich sagen? "Schäfchenwolken" wäre zu grob, "Lämmerwolken" ist präziser.
Klar, Kurzarm oder gar Ohne-Arm-Wetter.
Der gelbe Postbus rollte uns nach Chur und entlud uns am Hbf. Wozu eigentlich diese Busfahrt?
Der - um mal kurz ins werbefuzzische abzugleiten - unique selling point dieses Laufes ist die Höhenmeteranzahl: 2682m rauf und 402m runter. Um dieses fast ein wenig überkandidelte Profil zu erreichen, beginnt der Lauf am weit und breit tiefsten Punkt, nämlich im Rheintal, auf 585m über NN. Darum die Busfahrt.
Wohin nun? Ein Paar Minuten zu Fuß zum Startplatz, der "Quaderwiese", einer klassizistisch ummäuerten Grünanlage.
Ein netter Moderator interviewte mich. Wie ich´s denn gerne hätte: Ob die Leute mich anfeuern oder anlachen sollten? "Auslachen" antworte ich. Das mache mich aggressiv und lasse mich schneller werden. Nun ja.
Los ging´s.
3 km flach aus der sympathischen Kantonsmetropole heraus. Dann in ein Seitental des Rheintales rein (wie beknackt klingt das denn?), die ersten Schotterwege aufwärts, und ab km 5 wurd´s schmal und steil.
Ich mach´s mal kurz: Verschnörkelt serpentimig ging´s bergan bis nach "Foppa", wo nach ca. 17 km und 1150 Höhenmetern der erste Höhepunkt erreicht wurde. Ab hier hieß es verschnaufen, rollen lassen, bis hinunter nach Lenzerheide, also für die nächsten 12 km und 300 Höhenmeter.
Die Sonne brutzelte auf Wade, Wald und Wiese. Ackerglockenblume und beglockte Kühe schauten uns zu, ebenso die glücklichen Besitzer der, äh, wie sagt man: Chalets?, also der Wochenendbuden an den Hängen. Gediegene Freizeitkultur, blau-weiß karierte Tischdecken, auf denen Kannen mit Kaffee und heisser Ovomaltine standen, und Plastik-Gartenstühle, auf denen strahlende Graubündner saßen und "Hopp Schwyz" riefen (schreibt man das so?).
Von Foppa bis Lenzerheide lief ich gemeinsam mit einem aufgekratzten Badenser Autoschlosser, der mich mit vielen lustigen Bemerkungen schmunzeln machte; wenn zum Beispiel ein Zuschauer "Bravo!" rief, bemerkte er verschmitzt: "Immer diese Zeitschriftenverkäufer..."
In der gepflegten Ortschaft Parpan eröffnete er mir seine Marathon-Bestzeit: 2:41. Au Backe, dachte ich mir, viiiiel zu schnell, wo bin ich denn hier gelandet, das klingt nach meinem alten Übel, der Selbstüberschätzung, dem Überriß und führt mich schnurstracks in die spätere Entkräftung. Egal, weiter.
Ein Clou der Strecke: Die erholsame Umrundung des schnieken Heidsees zwischen Valbella und Lenzerheide. Quasi zum Krafttanken bevors ernst wird. Wasser wie in der "Blauen Lagune". Nackte Kinder, Eisverkäufer, Op- und Omis, und vor uns war auch bereits das Ziel zu sehen. Oder besser: Über uns, denn beim Ziel handelt es sich um den Gipfel des "Parpaner Rothorns", 2865 Meter hoch.
Also. Nochmal Pipi machen, am Hotel vorbei, kurz geräuspert, mit dem Chip über die Matte und den ersten Gang einlegen.
Der Aufstieg ist leicht beschrieben: Es wurde einfach immer steiler. Bis zur Mittelstation der Seilbahn waren weite Pfadteile für Hansels meiner Lungenkapazität noch so gerade laufend zu absolvieren, dann nahm das Gegehe immer mehr Überhand (schreibt man das nun groß oder klein?), bis es ab ca. 2200 Metern Höhe an den Altschneefeldern in ein vorsichtiges Getapse abglitschte.
Übrigens: Die ansonsten zu leisen Flüchen anregenden Schneepassagen hatten den Vorteil, daß sie überaus erfrischend wirkten. Da man sich sowieso mit den Händen im Sorbet abstützen musste, konnte man sich auch immer mal wieder einen Schneeball unters Toupet schieben. Ah, war das schön! Danke, Frau Holle!
Die Kilometerschilder hatten hier oben eine ganz neue Bedeutung, nämlich gar keine. Wichtiger wurde vielmehr der flehende Blick gen Gipfel, sofern dieser möglich war, denn auf Schnee laufend guckt man besser, was der Vordermann macht, sonst: Plumps.
Auf dem letzten Schneerest saß ein kahlgeschorener Athlet am Rande der Trittspur und vergoß heiße Tränen. Hatte er sich übernommen oder versuchte er, den Berg freizuschmelzen?
Hätte er doch gewußt, wie nah das Ziel bereits war! Drei, vier Minütchen! Oben! Hurra! Äh, Bravo! Hopp, Schwyz!
Der Rothorngipfel ist eng, und diese Enge verursachte eine höchst muckelige Atmosphäre. Sommerfrische. Liegen, auf denen Läufer lagen, die zu kaputt waren, um sich die Pflaster von den Brustwarzen zu zupfen. Eine prima Kapelle (was die spielten, hab ich vergessen. War wohl die Höhenluft schuld).
Exzessiv gelöste Stimmung. Allgemeine Heiterkeit. Auch bei mir? Jawohl, auch bei mir! Ich lachte mich kaputt! Hahaha! Geschafft! Ein gutes Gefühl! Zum Bäume ausreissen. Gut, daß keine da waren.
Schön schnell kam man mit der Seilbahn wieder runter. Vor lauter Euphorie stieg ich an der Talstation in den falschen Postbus und fuhr nicht zum Hotel, sondern Richtung Chur. Noch immer gackernd stieg ich in Parpan aus, lotste meine Familie per Handy zu mir und brauste heim. Mit Zwischenstopp in Lindau, Vollbad im Bodensee, Schnellrestaurant. Unser inzwischen festgezurrtes Ritual nach Schweizläufen.
Ich fasse zusammen: Quasi eine Doppelveranstaltung: Erst 30 km hügelig, dann 10 km flotte Bergwanderung.
Sieger: (Natürlich) Jonathan Wyatt und Carolina Reiber. Steigende Teilnehmerzahl. Kein Wunder, denn hier macht sogar der Glitsch-Schnee Spaß. Perfekte Organisation, 1a Verpflegung. "Iis-Tee, Schoki, Boullion!" (neben allem anderen).
Superbe Strecke, übrigens komplett mit edlen Metallschildern gekennzeichnet. So lässt sich ganzjährig (hahaha) der Graubünden-Marathon trainieren (...macht doch keiner, mag man einwenden, aber der Kurs ist, da weitgehend bergauf, gelenkschonend und somit tatsächlich eine edle Trainingsstrecke für Bergsüchtlinge).
Ach ja: Aufgrund seiner Orthopädiefreundlichkeit und seines Termins paßt der Graubünden-Marathon auch gut in jede Davos-K78-Vorbereitung.
Also: Herkommen! Mitmachen! Höhenkoller genießen! Danke, liebe Helfer, Danke Graubünden! Heidiwitzka!
© Wigald Boning , 28. Juni 2004
Weitere Info's und Berichte zum Lauf: