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Rainer Satzinger , 12. September 2004Im Nordic Walking Schritt um den Mont-Blanc
Vom 27. Bis 29. August 2004 fand die zweite Auflage des Ultratrail du Mont-Blanc statt. Der Ultraberglauf über 155km und 8300 Höhenmeter führt non-stop auf markierten Wanderwegen von Chamonix aus rund um das Mont-Blanc-Massiv durch Frankreich, Italien und die Schweiz. Das Zeitlimit liegt bei 44h, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 3,6km/h entspricht. Hört sich großzügig an, ist es auch. Für Spitzenläufer. Für Freizeitsportler aber durchaus sehr anspruchsvoll. Trotzdem oder gerade deshalb aber auch sehr interessant, eben eine echte Herausforderung. Ca. 1400 Läufer stehen abends um 20h am Start in Chamonix, bewaffnet mit Stirnlampe, Trinkrucksack und häufig mit Stöcken. Das Wetter ist hervorragend und die Vorhersage auch, samt sternenklarer Nacht mit Vollmond. Superstimmung unter den Läufern und den begeisterten Zuschauern.
Es geht los. Die ersten Kilometer durch Chamonix und dann weiter durch den Wald nach Les Houches sind ideal zum Warmlaufen. Aufgrund der enormen Zahl von Teilnehmern kommt es durchaus zu Stauungen, aber so wird man am Überziehen gehindert, die gesparten Körner wird man noch brauchen! Eine Stunde nach dem Start wird es dunkel. Im Ort gibt es großes Gedränge an der Wasserstelle. Aber, wozu hat man denn den Trinkrucksack. Die Selbstversorgung spart Zeit. Weiter geht’s auf Feldwegen teilweise steil bergab auf die Ausgangshöhe. In wechselndem Auf und ab ist ein unangenehmer Pfad in steilem Waldgelände mit vielen quer laufenden Wurzeln zu passieren. Nachdem man hier nicht überholen kann, läuft man einfach in der Schlange mit und hat somit den Weg vor sich ganz gut ausgeleuchtet. Als ich dann in Les Contamines ankomme, ist die Verpflegungsstation völlig leer geräumt. So fülle ich meinen Trinkrucksack am Brunnen wieder auf und gehe zügig weiter. Auf das erste Zeitlimit habe ich ca. 1:15h Vorsprung. Es läuft planmäßig. Am Ende des nächsten Flachstücks kommen mir kurz nach einer Abzweigung ca. 50 Läufer entgegen. Kollektives Verlaufen nennt man das wohl. Man soll nie einfach jemandem hinterher laufen! Endlich kommt der erste richtige Berg. Ich freue mich richtig darauf. 1250 Hm am Stück auf den Col du Bonhomme. Die erste Hälfte führt noch leicht auf Fahrwegen bis zum Gasthaus La Balme, danach auf einem Wanderweg bis zum Sattel. Immer wieder läuft man auf langsamere Gruppen auf, da der Lauf erkennbar von einigen Läufern ersten Tribut fordert. Häufig ist über längere Passagen kein Überholen möglich. Wieder Körner gespart. Der Abstieg ist für viele Läufer ein Alptraum, insbesondere für diejenigen, die ohne Stöcke unterwegs sind. Zunächst felsig, dann über Erde und Gras geht es 900Hm mit einem Durchschnittsgefälle von 20% steil und rutschig bergab und nachdem es zwei Tage vor dem Lauf geregnet hat, kommt viel Wasser vom Berg herunter und der Boden ist aufgeweicht und matschig. Ich komme mit Stöcken gut voran. Unten in Les Chapieux angekommen steht eine längere Schlange am reichlich gefüllten warmen und kalten Buffet. Ich will nicht zuviel Zeit verlieren, fülle meinen Trinkbeutel wieder auf und schnappe mir im Stehen ein Süppchen und einen Müsliriegel. Aufgrund der Erfahrung vom letzten Jahr kenne ich den nun folgenden gemütlichen Anstieg, sodass ich mir auch morgens um halbfünf eine Dose Bier leisten kann, um den süßen Geschmack von Isogetränk, Cola und Müsliriegel wieder runter zu spülen. Ich fühle mich echt prima. Mit 1:35h Vorsprung auf’s Zeitlimit geht’s weiter. Jetzt kommt mir die Nordik Walking Technik, die mir meine Frau Maria beigebracht hat, sehr zu gute. Ich überhole einige Jogger, ohne mich anzustrengen. Die 700Hm bis zum Col de la Seigne fallen mir leicht. Oben angekommen kommt auch schon die Sonne heraus. Was für ein herrlicher Blick nach Italien. Maria ruft an. Erstaunlich wie gut das Netz hier oben ist. Weiter geht’s leicht bergab und nach einer weiteren Verpflegung flach am Lac Combal vorbei. Der nächste Berg erfordert nur knapp 500 Hm im Anstieg. Es wird langsam warm. Ein echter Genuß! Ich freue mich schon auf die Berghütte am Col Chécroui. Vom letzten Jahr ist mir das gute Essen dort noch in Erinnerung. Ich genieße herzhaften Bergkäse und auch ein kleines Gläschen Wein. Würde gern hier bleiben. Letztes Jahr habe ich hier beschlossen, den Lauf nach 70km in Courmayeur zu beenden. Damals war alles anders: schlechtes Wetter, dicke Blasen und hart am Limit. Heute sieht die Welt anders aus. Weiter geht’s. In Courmayeur bekomme ich meinen vor dem Start abgegebenen Kleiderbeutel und ziehe mich um. Zum Duschen nehme ich mir keine Zeit, wäre auch für die getapten Füße weniger günstig. Frische Klamotten fühlen sich trotzdem prima an. Dann kommt auch schon mein Mittagsanruf. Da ich ansonsten meistens alleine unterwegs bin, freue ich mich jetzt schon auf Abendanruf. Jede Unterstützung ist willkommen.
Ab jetzt bin ich in der Wertung. Nach der Pause habe ich 1:45h auf’s Zeitlimit. Sollte reichen. Der nächste Anstieg über 800Hm erfolgt in der prallen Mittagshitze. Von einem Moment auf den anderen bin ich in einem tiefen mentalen Loch. Ich hatsche einfach vor mich hin, immer weiter. Ultralaufen ist einfach. Man gibt einfach nicht auf. So einfach ist das. Nur in diesem Moment ist es hart, aber man lernt Krisen zu überwinden. Nach zwei Stunden bin ich endlich oben. Mein 2 Litertank hat gerade gereicht. Jetzt ist ausreichend Flüssigkeit das wichtigste. 15min Pause und weiter geht’s. Jetzt kommt ein leichtes Stück, trotzdem geht es auf und ab und nach 400 Hm Abstieg noch ein paar erholsame flache Kilometer im Tal. Der Übergang in die Schweiz ist in der Mitte geteilt durch das Rifugio Elena. Dadurch kommen einem die 900Hm Anstieg gar nicht soviel vor. Bei der Rast muss ich eine Blase versorgen, um sie nicht weiter wachsen zu lassen.
Kein Problem, ich habe alles dabei. Fast oben angekommen kommt mein Abendanruf. Ich fühle mich hervorragend! Jetzt habe 2:45h auf’s Limit. Langsam fühle ich mich sicherer. Die 900Hm hinunter nach La Fouly in der Schweiz schaffe ich noch bei Tageslicht. Läuft super. Weitere 600Hm hinunter bis Issert. Auf einem längeren Abschnitt laufe ich in einer Gruppe über einen schmalen Pfad, der teilweise stark ausgesetzt ist. Zwar gut markiert, muß man doch voll konzentriert sein, um einen Fehltritt zu vermeiden. Die Gruppe gibt zusätzliches Licht und ein Gefühl der Geborgenheit. An der nächsten Verpflegungsstation, nachdem der Weg wieder problemlos ist, holt mich dann kurz vor Mitternacht die Müdigkeit ein. Die zweite Nacht ohne Schlaf fordert ihren Tribut. Hier aussteigen ist keine Option. Lieber langsam weiter gehen, als auf einen Transport warten und frieren. Also weiter nach Champex, 400Hm nach oben. Was für ein endloser Hatsch, der so harmlos in Höhenprofil der Ausschreibung aussah! Die Lichter der Läufer vor mir sind bald verschwunden, ich bin allein. Einfach weiter, irgendwann ist man da. Als meine Lampe langsam nachlässt erreiche ich gerade Champex-Lac. Der See muss herrlich sein. Ich habe ihn auf Bildern gesehen. Jetzt interessiert er mich wenig. Ich will einfach irgendwo ankommen. Endlich laufe ich gegen halbzwei Uhr morgens nach 117km in Champex d’en Bas ein. Hier ist wieder ein Hauptposten eingerichtet, mit allem Drum und Dran und meinem Kleidersack. Ich könnte hier aussteigen. Der Gedanke hat einen gewissen Reiz. Allerdings habe ich mir vorher versprochen, dass ich nicht freiwillig aussteige, solange ich im Zeitlimit bin und keine ernsthaften körperlichen Symptome aufweise. Mist, 2:40h Zeit. Also, erstmal was essen. Im Camp treffe ich eine Bekannte vom Marathon des Sables. Sie erzählt mir, dass sie wegen Magenproblemen aussteigen musste, "aber du gehst doch weiter?" "Ja, sicher!" Jetzt war das also auch geregelt. Ich haue mir eine Bratwurst mit Kartoffelsalat rein, eigentlich kein Läuferessen, aber nach all der Energienahrung in Form von Riegeln und Gels ist das genau das richtige. Und ein Bierchen dazu. Ich bin noch müder als vorher. Man könnte hier schlafen, aber erstens kann ich mit aufgedrehtem Kreislauf sicher nicht gleich einschlafen und zweitens: würde man dann nach max. einer Stunde wieder wach und könnte weitergehen? Also entscheide ich mich die Müdigkeit zu ignorieren und tue statt dessen etwas für das geistige Wohlbefinden. Ich nehme eine warme Dusche und ziehe frische Klamotten an. Wenigstens rieche ich wieder gut. Nach einer Stunde breche ich zum letzten Abschnitt auf. Nur noch 38km. Nichtmal ein Marathon.
Vor mir liegt der schwierigste Anstieg der Tour. Soviel habe ich schon von einem Laufkameraden erfahren. Das schockt mich nicht. Ich bin immer noch so müde, dass mir das jetzt egal ist. Also auf geht’s 650Hm hinauf zum Col de la Forclaz über Steinbrocken und Wurzeln, durch Bäche und Gestrüpp. Zwischendurch sehe ich eine Lampe vor oder hinter mir. Es geht teilweise im Zickzack, aber ich finde immer wieder Markierungen. Plötzlich höre ich eine vertraute Sprache vor mir:
"Sch..., meine Lampe ist im kaputt!". Ich gebe ihm meine Ersatzlampe. So treffe ich Olaf aus Nürnberg. Die Welt ist klein. Zu zweit geht es gleich viel besser. Oben angekommen erwartet uns ein grandioser Ausblick auf das schweizer Rhônetal bei Nacht, ja bis zum Genfer See bei Montreux kann man sehen. In solchen Momenten weiss man wieder, warum man sowas macht, sollte man es vergessen haben. Leichter, am Schluß extrem steiler Abstieg nach Trient. Es wird wieder hell. Die größten Schwierigkeiten sind geschafft, aber in der Nacht habe ich Zeit verloren. Nur noch 1:10h auf’s Zeitlimit. Seit dem letzten Abstieg spüre ich Blasen an den Fersen. Aber ich weiß jetzt, es wird reichen. Der letzte Berg ist einfach. Ohne Pause weiter, nochmal 750Hm aufwärts. Ich bin fast oben, als ich nochmal einen körperlichen und mentalen Tiefpunkt erreiche. Da kommt mein Frühstücksanruf. Das baut auf! Noch ein Stückchen, dann bin ich oben. Eine warme Suppe und ich fühle gleich viel besser.
Gut gelaunt schlendere ich so vor mich hin. Alles im Griff. Jetzt bringt mich nichts mehr aus der Ruhe. Der Abstieg nach Vallorcine ist einfach, dann ein flaches Stück im Tal. Noch 8km bis ins Ziel und 4h Zeit. Jetzt rufe ich Maria an und sage ihr, dass ich bald da bin. Sie kommt mir entgegen. Ich fühle mich schon fast wie im Ziel. Was für eine Täuschung!
Nochmal 300Hm Aufstieg, die ich wohl im Höhenprofil übersehen haben muß, im Wechsel mit Bergabpassagen, anstrengend über Steinbrocken und Wurzeln. Warum muss am Ende eines solchen Laufes noch ein derartiges Stück kommen? Reine Schikane, denke ich für mich. Nach 1:45h erreiche ich den höchsten Punkt dieses Abschnitts am Sentier des Gardes. Meine Wasservorräte sind erschöpft. Endlich treffe ich Maria, die wenigstens Kaugummis dabei hat. Jetzt geht es langsam so weiter, allerdings mehr bergab als bergauf. Nachdem die letzte Verpflegungsstation erreicht ist kommt endlich wieder ein fester Weg. Maria spornt mich nochmals an und nach 42h 53min erreiche ich das Ziel in Chamonix. "Vous êtes un finisher" sagt man mir. Ist es wirklich schon vorbei? Maria hat feuchte Augen. Sie wäre gern dabei gewesen. Wirklich? Auch wenn sie das Stückchen zwischen Start und Ziel gekannt hätte? Ja, bestimmt. Nächstes Jahr gehen wir gemeinsam. Versprochen!
Subjektive Beurteilung von körperlicher Leistungsfähigkeit und mentaler Stärke
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