Alle zeigen - Bericht von Gregor Jonas zum Lauftage 100 KM Biel-Bienne:
Gregor Jonas , 22.06.2005

Bieler Lauftage - mein erster 100er

Bieler Lauftage am 17.06.2005

Vorwort:
Man erinnere sich zurück ans Ende der 80er Jahre:
Ein kleiner (?) Junge sitzt vor dem Fernseher (was soll nur aus der Jugend werden??) und sieht einem Beitrag einen Bericht über einen 100 km-Lauf in Biel. Das machen nur ganz wenige Leute, die echte Helden sind und der kleine Junge will das auch – ein Held sein!
Immer wieder begleitet der Gedanke den Jungen bei dem Versuch, dem Erwachsenenleben näher zu kommen. Schon vergessen dachte sich der Gedanke, aber: auch der Gedanke beweist einen langen Atem und taucht immer wieder im Geiste des Jungen auf…bis aus dem Jungen ein (zumindest körperlicher) Mann geworden ist: und im Jahre 2005 ist es soweit: es geht nach Biel!!

Die Anreise:
Ich mag es nicht, wenn ich die Organisation aus der Hand geben muß, aber für meine Bielreise war es vonnöten, denn ich habe mich einer Gruppe Ultraläufern angeschlossen, die mich netterweise in ihre Reihen aufgenommen hat.
Die Gruppe sei kurz vorgestellt: Meine Begleiter sind Paul, Werner (beide von Run 4 Fun Köln), Thorsten (so wie ich Erstläufer in Biel), und Hans-Jürgen (62 (!) 100km-Läufe (vor dem folgenden in Biel)). Weiterhin sind Annerose und Markus als Unterstützung in Biel dabei (Markus kann leider nicht laufen). Zu meiner persönlichen Freude ist Oliver (Kumpel und Arbeitskollege) sowie Sylvie (von der LT Beverau) am Start. Diese Namen werden noch öfter auftauchen und seien hier nur kurz schon einmal genannt.
Am Donnerstag vor dem großen Rennen wollen mich Paul, Thorsten und Werner abholen und mit mir die fünfeinhalbstündige Autofahrt in die Schweiz antreten. Schon Stunden vor der Abfahrt laufe ich sehr aufgewühlt durch die Wohnung – klappt die Organisation, passt alles? Habe ich was vergessen? Wird Oli von seinem Seminar pünktlich zum Freitagnachmittag in Biel sein? Wie wird die Unterkunft schön sein? Über die ganzen Nebensächlichkeiten habe ich den eigentlichen Sinn der Fahrt total vergessen.
Aber die Nervosität ist bald verflogen, als das Handy pünktlich klingelt – mein Zeichen zum Aufbruch – und die erste Hürde ist geschafft. Kurze Begrüßung, die Sachen verstaut, den Reisekaugummi eingeworfen und dann wird durchgestartet nach Biel! Hier erfahre ich, dass Paul bereits einmal Biel gefinisht hat, aber auch einmal aussteigen musste (Geschichten, die man als Ultra-Neuling gar nicht hören mag) und dass Werner zum fünften Mal in Folge in Biel startet. Es wird eine kurzweilige Fahrt (in den Stunden, in denen ich nicht schlafe, reden wir viel und ich habe das Gefühl, dass ich gut in die Gruppe passe und die Gruppe gut zu mir passt. „Diese Nacht wird dein Leben verändern!“ offeriert mir Werner „Vielleicht merkst du es nicht gleich, aber sie wird es!“ Starke Worte und ich bin gespannt, ob es stimmen wird!
Einen Höhepunkt hat die Fahrt noch zu bieten: Für den Grenzübertritt zücken wir pflichtbewusst unsere Ausweispapiere (a la ’Hauptmann von Köpenick’: „ein Deutscher hat seine Papiere in Ordnung zu haben ;o) ) und so sehe ich Thorstens Passbild – ein etwas sehr beleibter Mann schaut relativ streng in die Kamera und Thorsten erzählt uns, dass zwischen dem Bild und dem Status quo gute vierzig Kilo liegen – enorm!!!!

In Biel stößt Hans-Jürgen zu uns. Die Bielstarter sind somit komplett und der erste Abend kann eingeläutet werden.
Auf zur Pastaparty! Nachdem wir die Startunterlagen abgeholt haben treffen wir Sylvie und Helmut (Sylvie’s Trainingspartner) und schnell versteht man sich, schaufelt einen Berg Nudeln in sich hinein während eine Jugendtanzgruppe aus dem Ort eine HipHop-Performance darbietet. Eine leichte Spannung liegt in der Luft: bald ist es soweit und jeder weiß es ganz genau: Bald laufen wir los!
Wir verabschieden uns von Helmut und Sylvie und fahren ins Nachtlager, denn es will noch Schlaf getankt werden.
Da aber unsere Herberge ein eigenes Bier braut (darunter auch ein Hanfbier) muß dieses natürlich sofort ausgetestet werden – das Nachtlager muß warten!
Die Spannung fokussiert sich immer mehr auf den Lauf: die Gelassenheit von den erfahrenen Ultraläufern um mich herum beruhigt mich, verunsichert mich aber auch (sobald es in den Gesprächen um „Aufgeben“ oder „Grenzerfahrungen“ geht).

Der eigentliche Wettkampftag (die Vorbereitung):
In der Nacht liege ich lange wach, denn es ist schwülwarm im Zimmer und unsere Zimmernachbarn köpfen noch diverse Flaschen Rum im Aussenareal der Herberge. Die Alkoholgenießer entpuppen sich als nordirische Soldaten, die ebenfalls an den Bieler Lauftagen teilnehmen. Wir wundern uns etwas über die Vorbereitung mit Alkohol und Zigaretten, aber die kräftigen und tätowierten Bulldoggen scheinen einiges verkraften zu können.
Nach einem großen Frühstück will der Vormittag gefüllt werden und die Truppe spaltet sich ab: Thorsten und ich fahren mit der Bieler Seilbahn (eine Bahn, die mit einem Stahlseil über die Schienen gezogen werden) auf ein Hochplateau, um das herrliche Panorama zu bestaunen (leider ist es zu diesig um einen Blick auf die schneebedeckten Gipfel der Viertausender zu erhaschen), während der Rest der Truppe eine Bootstour auf dem Bieler See macht.

Anschließend folgt die wichtigste Aufgabe des Tages (abgesehen vom Start): wir bauen ein Zelt im Zielbereich auf (um eine eigene Ruhezone nach der bevorstehenden Tortur zu haben) und stellen das Auto in der Nähe ab. Die Rückfahrt nach dem Lauf ist also gesichert. Noch ein kleiner Altstadtbummel und der traditionelle (zumindest für Annerose, Hans-Jürgen, Markus, Paul und Werner) Kaffee, dann heißt es ruhen.
Ruhe?? Ich erreiche Oli nicht! Handy aus – Panik macht sich breit! Das Handy läuft bereits heiß und ich will nicht mehr. Der Lauf ist mir egal und um 15:30h ist mir klar: Du startest nicht!! Ein Hunderter wird überbewertet! Träume müssen nicht erfüllt werden! Bin eh nicht fit für so was!
Werner bekommt meine Stimmung mit und lässt sich meine Gemütslage schildern. Sein Kommentar ist kurz, prägnant und bringt mich auch wieder ein wenig auf Kurs: „Gregor, Du bist ne Pussy!“
Das versetzt mich etwas in Rage, aber beruhigt mich auch schon wieder auf eine spezielle Art und Weise. Aber Pussys laufen keinen Hunderter…aber ich tu es!

Beim Kaffee dröhnt mein Handy – Oli wird eine halbe Stunde später als geplant kommen, aber das ist alles kein Thema, denn wir haben alles perfekt organisiert! Sogar das Leihfahrrad steht bereits bereit! Zeit sich auf die Betten zu legen und ein paar Stunden (genau genommen runde zwei) zu schlafen am Nachmittag.
Die eigentliche Vorbereitung beginnt genau danach: aufstehen, nochmals duschen, um wach zu werden, die Laufklamotten anziehen, die Füße präparieren (wie groß hier die Unterschiede sind: Hans-Jürgen benutzt Baby-Puder und Penatencreme, Paul, Thorsten und Werner benutzen nichts und ich versuche eine Melkfettschicht, worüber ich eine Stunde später noch eine Schicht Vaseline streiche – und: Ich hatte nicht eine Blase am nächsten Tag!!). Oli ist eingetroffen, sichtlich geschafft von der Fahrt und den üblichen Nebenerscheinungen eines Seminars („Mann, war ich besoffen!“), aber frohen Mutes und voller Vorfreude auf die abendliche Veranstaltung. Viel Zeit bleibt nicht mehr, denn Oli muß früher als wir Läufer am Start sein, damit er sich der Polizeieskorte nach Lyss anschließen kann – den Rucksack schnell gepackt, die Radklamotten angezogen, mit einem Stadtplan bewaffnet und schon radelt Oli los.
Noch eine Variable gibt es vor dem Start zu überstehen: schaffen wir es pünktlich zum Treffpunkt mit Sylvie und wenn nicht, wartet sie dann? Aber auch das klappt alles! Sogar Detlev Ackermann von Laufen-in-Köln treffen wir zum kurzen Plausch (er feiert seinen Geburtstag am Tage des Startes). Aber endlich ist es soweit: die Läufer ordnen sich in die Startaufstellung und es kann losgehen.

Das Rennen:
Ultras (und vor allem 100km) laufen scheint etwas völlig anderes zu sein, als zum Beispiel einen Marathon zu bestreiten und so ist auch das Starterfeld eine Zusammensetzung aus ganz eigenen Gestalten: alte Hasen, die mit Sporthosen, teilweise sogar Bermuda-Shorts starten. Mit Baumwollhemden, Kinderrucksäcken oder ähnlichem laufuntypischen Accessoires machen sich diese Altmeister auf den Weg und ringen mir ein ungläubiges Staunen ab. Auch einige Läufer(innen) fallen mir ins Auge, wo ich mich ernsthaft frage, ob diese Leute hier erste Lauferfahrung sammeln wollen (aber vielleicht täuscht mich hier die äußere Erscheinung).
Nur noch wenige Minuten aber das Feld passiert schon die Startfahne?!? Ich erinnere mich an die Ausschreibung, dass der Start um einige Hundert Meter vorverlegt wird: ach so: Aufstellung in der traditionellen Startbox, dann der Startschuß am „neuen“ Platz.
ES IST SOWEIT: runde 1.000 Trainingskilometer in der „heißen“ Phase liegen hinter mir: Höhen und Tiefen sind durchlebt und überstanden worden: ich stehe hier, habe tausendfach davon geträumt, wie es sich anfühlen mag und wie vieles, was noch kommen wird: keiner meiner Träume war auch nur annähernd der Wahrheit entsprechend!
Ein Startschuß aus einer großkalibrigen Waffe schickt die Läufer in die Nacht hinaus. Wir gehen, marschieren zuerst und warten auf die Zeitnahmematte – doch es scheint keine zu geben und so traben Sylvie und ich langsam los. Die Spitzenläufer sind schon entschwunden, aber das große Feld schlängelt sich durch die Gassen von Biel. Die halbe Stadt ist wohl noch auf den Beinen und veranstaltet eine Art Volksfest. KM 3 gibt das erste Highlight: eine volkstümliche Blaskapelle spielt Toto’s „Hold the line!“ und die Massen toben, kreischen und feiern – die erste von vielen Gänsehauterlebnissen wird abgespeichert.
Die erste Steigung gehen wir auch schon bei km 7: hier zu laufen macht keinen Sinn! Und: der erste Verpflegungsstand ist hier auch aufgebaut worden: der Tee will probiert werden (prima!) und auch das Brot muß getestet werden (auch prima!).
Der Lauf ist gerettet und wir traben langsam aus Biel heraus. Noch einmal kurz austreten (zuviel Tee, ich weiß!): und wer steht neben mir? Paul drängt das gleiche Bedürfnis an den Rand: ein letztes Mal Glück gewünscht und dann schnell zu Sylvie aufschließen: Es geht raus aufs freie Feld und rein in die Nacht! Wir können es kaum glauben, dass wir in Biel sind: mich überkommt immer wieder ein Schauer beim Gedanken an mein Vorhaben und Rolf Aldag’s Spruch aus dem Film Höllentour kommt mir in den Sinn: „Wenn man sich mal bewusst macht, wie wichtig diese Veranstaltung hier ist!“
Immer wieder sind kleine beleuchtete Schilder angebracht, um uns zu zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind: Ab und an feiern ein paar Jugendliche bei Lagerfeuer und Bier und treiben uns Läufer an. Kopfleuchtenlichtkegel tanzen auf dem Asphalt, es wird rege geschwatzt. Das hier ist kein Wettkampf – das ist Spaß hier!
Doch bei ca. km 15 bekomme ich einen Riesenschreck: Werner taucht kurz vor Sylvie und mir auf: er will um 10:30h laufen und ist somit entweder sehr langsam oder wir sind viel zu schnell: Werner beruhigt uns aber, er sei sehr langsam losgelaufen und würde noch aufdrehen.

Die nächste Verpflegungsstation ist mitten auf einem Dorfplätzchen aufgebaut worden und mit dem Panorama, den vielen Zuschauern ergibt sich ein tolles Flair: neben den isotonischen Getränken (die ich meide) wird nun auch heiße Gemüsebrühe gereicht: da es kühler wird und auch zum Ausgleich des Mineralienhaushaltes ist das eine willkommene Sache!

Das Tempo um die 7 Min./km hat sich langsam eingeschliffen und wir laufen wie ein Tempomat sehr gleichmäßig – kurze Pulskontrolle (sehr ruhiger Puls) und dann auf nach Lyss, um Oli zum treffen.
Bei km 20 kommt nochmals Hektik auf: die Marathonis schließen auf und ziehen unvergleichlich an uns vorbei. Für eine Sekunde denke ich drüber nach, ob ein Start beim Marathon nicht besser gewesen wäre. Aber Marathonläufe werde ich noch genug machen – es sollte doch der 100km-Lauf sein! Also weiter nach Lyss, wo uns wieder eine Schar Zuschauer zujubelt und wir Oli mitsamt des Fahrrades erblicken.
Die Nacht hat uns bald wieder als wir Lyss verlassen und bei km 35 spielt sich für mich der schönste Moment der Nacht ab: das Läuferfeld ist einen guten Kilometer einzusehen: eine Schlange aus Fahrradrücklichtern, Kegeln der Stirnlampen einiger Läufer, der wolkenlose Himmel mit zahllosen Sternen und einem hellerleuchteten Halbmond brennen sich in meine Sinne. Einfach Phantastisch diese Eindrücke!!!
Die Kilometer plätschern dahin, wir scherzen, lachen, reden, genießen den Lauf. An km 50 nehmen wir uns die Zeit für ein Bild vor dem Kilometerschild. Im Osten zeichnet sich bereits die erste Morgenröte ab. Das könnte vielleicht passen, dass wir die Passage des Hoi-Tschi-Mingh-Pfades mit dem Sonnenaufgang beenden können (ich bekomme bei dem Gedanken wieder eine von vielen Gänsehäuten auf diesem gefühlsaufreibenden Lauf). Uns geht es gut (natürlich sind wir müde, aber das Gefühl kennt man ja) – es ist schön, dass wir noch zusammen laufen, denn es schien vorab gewiss, dass Sylvie und ich uns wahrscheinlich nach 20 oder 30km trennen würden. Mein hartes Training muß sich ja irgendwann auszahlen!
Herrlich sind die vielen Verpflegungsstellen, die fast keine Wünsche offen lassen (nur Werner wünscht sich für das nächste Jahr Salzstangen). Wir dehnen brav und nehmen uns viel Zeit an den Ständen. Aber bei 100km kommt es bei unserem Zeitsegment nicht mehr auf Minuten an.
Immer wieder treffen wir den ein oder anderen Bekannten. Thorsten sehe ich bei ca. km 60 (dann zieht er uns davon) aber Hans-Jürgen bleibt uns lange erhalten. Werner und Sylvies Trainingspartner Helmut wägen wir weit vor uns, Paul dürfte etwas hinter uns liegen.
Nach einer ’Rast’ in Kirchberg trennen sich die Radfahrer und die Läufer – so auch Oli, Sylvie und ich. Der traditionelle Hoi-tschi-Mingh-Pfad liegt nun vor uns (und Oli bleibt dieser Eindruck leider verwehrt): hier ist es glitschig, holprig und man muß aufmerksam sein. Immer wieder bremse ich Sylvie hier, die gerne an der Schlange Läufer vorbeiziehen möchte.
Mitten im Wald zeigt sich der Morgen von seiner kitschigen Seite: eine Schneise zwischen den Bäumen gibt den Blick über die dunstverhangenden Felder und dem orangenen Feuerball am Horizont frei. Hier bleibe ich sogar gerne für einige Sekunden stehen!
Berauscht von diesen Eindrücken laufen wir die wohl coolste Verpflegungsstelle an:
Der Pfad führt unter eine Brücke – hier wird der Charme eines Alternativenfestes versprüht: Besprayte Wände, Rockmusik aus den 70ern gute Stimmung drumherum - es fehlen nur noch bunthaarige Punks und die Szenerie wäre perfekt.
Die folgenden Streckenabschnitte geniessen wir im Sonnenschein: die Temperaturen steigen und es wird langsam richtig warm! Nach rund 8 km ohne unseren Unterstützer treffen wir Oli wieder, der uns offeriert, dass er durch das Warten bald eingeschlafen wäre!
Das Team funktioniert noch immer! Doch die Strecke bisher hat Spuren hinterlassen: Sylvie hat eine große Blase am Fuß, die ihr jeden Schritt zur Hölle macht und auch mir fallen die ersten beiden Schritte nach einer Gehpause schwer. Wir sprechen uns Mut zu, hören auf Oli, wie er uns immer wieder motiviert und merken, dass jetzt der Lauf wirklich angefangen hat!
Meinen persönlichen Tiefpunk erspare ich dem Leser: ich sage nur: gut, dass ich Oli eine Klopapierrolle ins Gepäck gegeben habe und dass ich den Tiefpunkt mitten im Wald habe. Das kostet Zeit, aber gibt Sylvie mal ein paar Minuten Ruhe vor mir: sie marschiert den Weg hinunter nach Arch, der gelaufen der Tod eines jeden Knies ist! Hier geht erstmal nix mehr und Sylvie macht das, was man jedem Läufer abrät: sie zieht den Schuh aus und macht die Blase auf – tough die Dame! Danach geht es ihr wieder besser, aber der Kopf will nicht mehr so wie zu Anfang: die angestrebten zwölf Stunden sind mir echt egal. Ich hasse das laufen…stundenlang immer der gleiche Trott – aber zwei junge Mädels machen diese Gedanken zunichte: die beiden sitzen auf einer kleinen Mauer und rasten dermaßen aus, wenn ein Läufer vorbeikommt, dass die gute Laune mich wieder ansteckt: ich fühle mich sehr gut, stark und könnte eventuell etwas schneller laufen, aber der Kopf…Druck machen…ne, jetzt ist es kaum mehr möglich. Ich motiviere lieber Sylvie zum Laufen: „bis dahin laufen wir“ „ab dann fangen wir wieder an zu traben – keine Widerrede!“ Wir nötigen sogar Oli mitzumachen: „wenn Du das (Verkehrs-) Hütchen aufsetzt, laufen wir ab da wieder!“ und er macht das sogar –wir sind ein gutes Team geworden in den letzten Stunden.
Damit ist es aber dann bei km 91 vorbei: „ich kann nicht mehr und will nicht mehr – Lauf!!!!!“ Eine kurze Diskussion und Sylvie macht mir klar, dass ich laufen soll, weil ich noch ohne ende Kraft hätte und sie auf jeden Fall auch ohne meine Begleitung ins Ziel kommen wird. Oli schickt sie direkt mit und ich flitze los – die 13h liegen noch in Reichweite, wenn ich das tempo wieder auf einen 6 Minuten-Schnitt drücken könnte. Ich plappere noch was von Sekt oder Selters und nehme die nächste Steigung im Laufschritt. Ungläubige Blicke der Überholten verfolgen mich, aber ich laufe wie entfesselt. Es geht bergauf und die Hitze drückt, aber ich muß weiter! Noch ein Brunnen, kurz Wasser ins Gesicht, um das Salz abzuwaschen und dann heißt es beißen, beißen, beißen! Bei km 94 noch was essen und trinken (mir wird bewusst, dass ich bei fast jeder Verpflegungsstelle einen guten Liter getrunken habe) auf die Uhr geschaut, noch einen Plausch mit einem erfahrenen Ultraläufer, der mir erzählt, dass ein Zeitziel völliger Schwachsinn beim ersten 100er ist - Recht hat er, trotzdem will ich die 13h knacken!

Und so renne ich wie der Teufel teilweise im 5er Schnitt (!) den Hügel hinauf und versetz so manchen erschöpften Läufer ins Staunen. „Wo kommt der denn auf einmal her?“ fragt mich da einer. Ich grinse innerlich und ziehe weiter mein Tempo durch: Zeit für ein Bild bei km 99 muß drin sein – ich schaue auf die Uhr, aber merke, dass nach rund 97 Kilometern die Rechnerei von Restlaufstrecke und Zeit bis zu den 13h nicht mehr richtig funktioniert: erst, als das Bild vom letzten Kilometerschild im Kasten ist, realisiere ich, dass ich für den letzten Kilometer runde 16,5 Minuten Zeit habe: entspannen und langsam austraben – den Beifall aufnehmen – ich vernehme meinen Namen aus en Lautsprechern und das Piepen der Zielzeitmatte signalisiert das Ende dieses Laufes!
Geschafft!!! Oli schließt auf und beglückwünscht mich, während ich mich für die tolle Begleitung bedanke! Dann platzt es aus mir heraus „IST DAS GEIL!!!!!“ – ich kann nicht anders: ich bin überwältigt!
Hans-Jürgen beglückwünscht mich – er war auch nur kurz vor mir im Ziel. Annerose teilt mir mit, dass Thorsten es tatsächlich geschafft hat, die 12h zu knacken (11:52h), man noch vergeblich nach Werner sucht und Paul wohl irgendwo hinter mir sein muß.
Jetzt schnell einen organisierten Ablauf schaffen: Oli ist müde und das Leihfahrrad muß zum Bahnhof: aus Olis Rucksack nestele ich noch einige wichtige Utensilien hervor und bitte ihn um die Rückgabe des „Velo“ – die Herberge ist von dort keine 5 Minuten Fußweg entfernt – dann kann Oli endlich etwas schlafen. Ich selber knie mich kurz hin, um meinen Knien eine andere Belastung zu geben: die seitliche Sehne tut wieder mal weh (Runner’s knee) - viel zu schnell stehe ich auf und der Kreislauf macht das Spielchen für eine Sekunde nicht mit: ein kurzer Schwindel, dann ist wieder alles okay, jedoch hat mich Annerose schon im Schlepptau und zieht mich zum Getränkestand – zwei Becher später werde ich von ihr zum Auto geschickt, ich solle meine Duschsachen holen, duschen, und mich dann von den offiziellen Masseur(inn)en durchkneten lassen…da gehorche ich gerne! Allerdings: das Auto ist verschlossen: Werner als vermeintlich schnellster von uns hat einen Schlüssel und Paul als Fahrzeugeigner ebenso: also wieder zurück: Zeit, um SMS zu schreiben und anzurufen, dass alles gut ist und ich noch in einem Stück existiere.
Ich komme gerade rechtzeitig zurück zum Zielbereich, denn Sylvie hat Paul auf der Strecke getroffen und beide traben über die langersehnte Ziellinie. Wir fallen uns in den Arm (und das, obwohl ich nach 100km nicht mehr so frisch rieche, wie zu Beginn des Laufes), freuen uns und beglückwünschen einander immer wieder wie toll unsere Leistung doch war!
Paul klärt uns auch über Werners Verbleib auf: Der arme Kerl hat wohl bei km 45 so starke Magenprobleme bekommen, dass er sich von der Schweizer Armee zwei Decken hat geben lassen, um sich dann für ca. 1,5h ins Feld zum Schlafen zu legen – deswegen konnten wir ihn auch nicht sehen, als wir ihn „überholten“. Und da kommt er auch schon; müde, abgekämpft, aber glücklich!
Der Nachgang ist dann wieder schnell erzählt: ich gehe zum Auto, hole alle Taschen (bin ja ein netter!), dann eine (leider eiskalte) Dusche, danach ab in die Reihe für die Massagen. Sylvie kommt hinzu und wir reden kurz über die letzten Stunden…tolle Sache! Die Massage danach war ein Traum: die Muskeln in den Beinen wurde wieder entspannt und sogar um meine Schulter hat man sich gekümmert, die mir ab km 60 große Schmerzen bereitet hat.
Den Nachmittag und Abend verbringen die Kölner und Solinger in unserer Herberge (Sylvie wohnt mit Ihrer Truppe außerhalb, so dass wir uns bereits komplett verabschiedet haben) Mit Schlafen, Essen, Plauschen und meiner obligatorischen 100km-Debütantenrunde geht der Abend dann auch zu Ende. Thorsten ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgereist und drückt sich somit um seinen Einstand.
Zum Schluss sei noch Paul zitiert: „Ich werde nie wieder richtig laufen können und ihr seid schuld, weil ihr mich mitgenommen habt!“ – ich gebe ihm recht, muß aber zum Zeitpunkt der Berichtserstellung zugeben, dass ich bereits wieder 5km ausgelaufen bin (wären es nicht 32 Grad gewesen und meine Vernunft hätte sich eingeschaltet, wäre ich wohl meine übliche 12-km-Runde gelaufen)

Fazit des Wochenendes:
Biel ist etwas ganz Besonderes! Es kann aus Dir einen Helden machen – einen Helden vor sich selber! Es war ein großartiger Lauf bei dem alles gestimmt hat und ja, Werner: ich denke, Du hast recht: irgendwas hat diese Nacht mit mir gemacht!!
Wie immer danke ich gerne denjenigen, die mir geholfen haben: Die Kölner und Solinger Läufer und Supporter Annerose, Hans-Jürgen, Markus, Paul, Thorsten und Werner sei gedankt für die tolle Aufnahme in euren Kreis! Das waren tolle Tage!
Oli für die tolle Begleitung, die netten Worte, die Aufmunterungen, die Aufopferung, den Spaß! Das war echt klasse!
Abschließend sei Sylvie gedankt für die nette Begleitung, die Gespräche, die Eindrücke, die Stimmung einfach für den tollen Lauf!
Nicht zu vergessen sind all diejenigen, die mir gute Wünsche per Telefon, Mail, Gästebuch, und diverse andere Medien geschickt haben! Danke!!
Um Werners Frage von der Rückfahrt zu beantworten, ob ich nächstes Jahr wieder dabei wäre: sagen wir es mal so: dein Orden für fünf gefinishte Läufe in Biel hat mir sehr gut gefallen ;o)


© Gregor Jonas, 22.06.2005

Weitere Info's und Berichte zum Lauf:


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