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Alle zeigen - Bericht von Oliver Arndt zum Internationaler Isarrun:
Oliver Arndt , 06.06.2006Kopfsache - Isarrun 2006
Der Isarrun ist ein Etappenlauf über 5 Tage und etwa 330 Kilometer. Start ist in Plattling, wo die Isar in die Donau mündet. Das Ziel sind die Isarquellen bei Scharnitz in Österreich. Ich hatte vom Isarrun 2004 und 2005 viel Gutes gelesen, hatte aber nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, dort zu starten. Wie kann man auf die Idee kommen, in 5 Tagen 330 km zu laufen? Wahrscheinlich ist es nach mittlerweile einer ganzen Reihe Ultramarathons einmal mehr der Reiz einer neuen Herausforderung. Für mich vor allem auch deshalb neu, weil sich das erste Mal die Frage stellte, ob ich überhaupt finishen würde...
Wie ernährt man sich während der 5 Tage? Mit welchen Problemen würde ich zu tun haben? Wie trainiert man überhaupt für so einen Lauf? - Zu meinem Training ist nur wenig zu sagen, denn es fand kaum statt. Beruflicher Stress schränkte mein Training sehr ein, und ich wollte natürlich meine Familie nicht nur beim Frühstück und beim Zubettgehen sehen. Daraus entstanden in den drei Monaten vor dem Lauf etwa 60 km pro Woche. Auch wenn ich nicht recht wusste, wie man für den Isarrun trainiert, war eines klar: 60 km sind zu wenig. Einen Programmpunkt, den ich mir vorgenommen hatte, zog ich allerdings durch: ich lief in drei Tagen rund 120 km. Als rein körperliche Belastungsprobe mag diese Trainingseinheit nicht sonderlich sinnvoll gewesen sein, aber sie war ausgesprochen wichtig für den Kopf. Ich hatte schließlich keinen Schimmer, wie man sich während des Wettkampfes fühlt, wenn man nach einigen Tagen morgens mit schweren Beinen oder sogar einer kleinen Verletzung am Start steht und eine 70 km-Etappe vor sich hat...so bekam ich einen kleinen Eindruck während dieser 3 Trainingstage, auch wenn der Umfang, den ich lief, wesentlich geringer war als beim Isarrun selbst. Aber ich fühlte mich auch am dritten Tag noch recht wohl, was mir eine gewisse Sicherheit gab.
Ich habe das große Glück, dass meine Frau meinen Sport nicht nur akzeptiert, sondern oft auch unterstützt. So planten wir, am Sonntag gemeinsam nach Plattling zu fahren, wo am Montagmorgen die erste Etappe gestartet werden sollte. Sie würde mit unserem 9 Monate alten Sohn weiter nach München fahren, wo die Isarrunner im Laufe der 3. Etappe durchkommen würden. Schließlich wollte sie mich am Freitag in Scharnitz in Österreich wieder einsammeln.
So trafen wir am Sonntagnachmittag an der Turnhalle in Plattling ein, in der wir die erste Nacht verbringen würden: erstes Beschnuppern der anderen Teilnehmer, alte Bekannte treffen. Die Ultragemeinde ist nicht sonderlich groß, man trifft oft dieselben „Verdächtigen“. Mein Respekt vor den anderen Teilnehmern war schon vor dem Lauf groß, weil einige bekannte Namen dabei waren. Ich merkte dann ziemlich schnell, dass auch die meisten der mir nicht bekannten Läufer einen riesigen Erfahrungsschatz hatten. Unter den 60 hageren Leutchen, die es sich in der Halle nach und nach gemütlich machten, waren etliche (teils ehemalige) Deutsche Meister, Deutschlandläufer, Transeuropa-Finisher, gleich zwei Deca-Ironman-Finisher, BadwaterUltra-Läufer, Montblanc-Umrunder, natürlich Marathon-de-Sables-Läufer, Trans-Jura-Läufer...Hinzu kam, dass einige den Isarrun offensichtlich ganz nebenbei liefen: Während ich 2 Wochen vor dem Lauf beim Hermannslauf über 31 km das Tempo etwas rausgenommen habe, um mich nicht zu überlasten, haben etliche Läufer an eben diesem Hermanns-Wochenende noch an der Deutschen Meisterschaft über 100 km teilgenommen. Zwei Starter waren gar zwei Tage vor dem Isarrun noch den Hollenlauf über 57 km bzw. 101 km gelaufen, und einer kündigte an, bei der Party am Freitag nicht dabei sein zu können, weil er am Samstag für den Rennsteiglauf gemeldet sei...lauter Verrückte. Angesichts der vielen tausend Kilometer Lauferfahrung, die da ins Rennen ging, stellten sich doch wieder ernsthafte Zweifel ein, ob ich hier hingehörte.
Zu spät. Nach einem reichlichen Turnhallenfrühstück gingen wir ein paar Meter ins Stadtzentrum zum Start. Dort warteten Sabine und Nick, von denen ich mich ausgiebig verabschiedete, dann trabten wir los. Zuerst ging es etwa 13 km in die „falsche“ Richtung, nämlich flussabwärts, weil die Mündung der Isar sich etwas außerhalb von Plattling befand. Schnell ein Foto an der Mündung, dann gings endlich in Richtung Berge... natürlich war ich zu schnell. Ich hatte mir die Regel „nicht schneller als Sechserschnitt“ fest vorgenommen, aber das Wetter war gut, die Stimmung euphorisch, die Verpflegung erstklassig, da fand ich einfach die Bremse nicht, lief die flachen 62 km inkl. einem kleinen Verlaufer mit einem Schnitt von 5:33 min/km und belegte den 13. Platz in der Tageswertung. Nach Bezug der Zimmer im Gasthof, einer ausgiebigen Dusche und dem wahllosen Plündern der erstbesten Bäckerei (soviel zu „Wie ernährt man sich während der 5 Tage?“) setzten wir uns am Ziel in die Sonne und begrüßten im Beisein des einen oder anderen Weissbieres die weiteren Isarrunner. Läuferherz, was willst du mehr?
Nach der ersten relativ kurzen Etappe folgte am zweiten Tag die Königsetappe mit gut 74 km. Um die Veranstaltung nicht allzu sehr in die Länge zu ziehen, wurde in zwei Startgruppen im Abstand von einer Stunde gestartet, wobei die schnelleren Läufer die spätere Gruppe bildeten. Das hat auch den Vorteil, dass die schnelleren Läufer im Laufe des Tages oft die langsameren überholen, sodass man immer wieder jemanden trifft. Die Etappe selbst war wieder flach und landschaftlich etwas eintönig, dafür hielt das Wetter einen ständigen Wechsel zwischen Regen und Sonne bereit. Gegen Ende erinnerten mich meine Oberschenkel daran, dass 74 km doch ganz schön lang sind. Auch der rechte Knöchel hatte kein Interesse mehr am Laufen, worauf er mich mit einem leichten ziehenden Schmerz hinwies. Ich nahm deutlich Tempo raus und traf schließlich nach 7:41 Std (6:13 min/km) als 17. der Tageswertung in Freising ein. Ich war doch etwas angeschlagen und deshalb froh, dass der Gasthof, in dem wir untergebracht waren, einen Aufzug hatte...wieder duschen, wieder zur Bäckerei, mit anderen die Etappe resümieren und sehnsüchtig aufs Abendessen warten. Nach dem Abendessen und dem darauffolgenden Briefing für den nächsten Tag passierte meist nicht mehr viel, meist befand man sich gegen 22 h in der Waagerechten. Regeneration funktioniert im Schlaf einfach am besten....
Wie gut, zeigte sich am nächsten Morgen. Von den Schmerzen im Knöchel war nichts mehr zu spüren, die Beine sicher nicht ganz locker, aber durchaus benutzbar. Das musste auch so sein, denn die heutige, mit 71 km wieder sehr lange Etappe führte mitten durch München, wo bei km 40 meine Familie auf mich wartete, um mich ein Stück zu begleiten! Bei gutem Wetter liefen wir im Sechserschnitt (endlich!) los, quatschten viel, und schnell war München erreicht. Sabine kam uns mit dem Babyjogger entgegen, und wir liefen 6 oder 7 Kilometer zusammen an der Isar entlang.
Das hat mir viel Freude bereitet und Auftrieb für die 2. Hälfte des Laufes gegeben. So viel Auftrieb, dass ich, nachdem Sabine und Nick wieder abgebogen waren, richtig Gas gab und etwa ab km 55 Schmerzen in einer sehr verdächtigen Gegend bekam: Oberhalb des Fußes dort, wo der Fuß ins Schienbein übergeht. Erste Anzeichen für die bei Etappenläufen berüchtigten Shin Splits, einer Knochenhautentzündung in Folge von Überlastung. Es wurde schnell schlimmer, es wurde immer wärmer, die Gegend wurde langweiliger. Bei etwa km 60 schlich ich über einen schnurgeraden Damm, die Sonne brüllte, ich war kaputt, die Füße schmerzten. Bei einem eintägigen Lauf denke in einer solchen Situation: „Noch schäbige 11km, jetzt Zähne zusammenbeißen, es ist nicht mehr weit!“. Hier wusste ich aber, dass den schäbigen 11 noch weitere 120 km folgen würden, und geriet nach und nach im Kopf in ein gehöriges Tief hinein. Ich dachte an meinen viel zu geringen Trainingsumfang und zweifelte nun ernsthaft daran, dass ich die Isarquellen erreichen würde. Zu allem Überfluss kam vor mir auf dem Damm eine Bank in Sicht, auf die ich mich gerade niederlassen wollte, um mich ganz meinem Selbstmitleid zu überlassen. Wahrscheinlich würde ich heute noch da sitzen, wenn in diesem Moment nicht ein Grüppchen Isarrunner vorbeigekommen wäre. Ein Funken Kampfgeist blitzte auf, und so setzte ich mich nicht hin, sondern hängte mich dran. Es tat zwar weh, aber ich lief bis ins Ziel in Wolfratshausen, wo ich zu meinem Erstaunen mit 7:48 Std. (6:32 min/km) immer noch den 19. Platz in der Tageswertung belegte.
So wurde in Wolfratshausen nicht nur die Bäckerei, sondern auch eine Apotheke geplündert. Ich war bei weitem nicht der einzige mit Blessuren, sogar die meisten Isarrunner schlugen sich mittlerweile mit kleineren oder größeren Verletzungen herum. In manchen Zimmern roch es schon wie in einer Apotheke, das Zischen von Eisspray-Dosen war allgegenwärtig, und ich wette, am Abend war in ganz Wolfratshausen kein Blasenpflaster mehr zu bekommen. Dazu hatte der Gasthof, in dem die Isarrun-Karawane nächtigte, einen passenden Namen: nicht „Zum Wunderläufer“ oder „60 Helden“, sondern: „Humplbräu“.
Meine Füße erholten sich bis zum nächsten Morgen mit Hilfe einer nächtlichen Voltaren-Packung wiederum recht gut, so dass ich guter Dinge die mit 61 km recht kurze Etappe anging. Von nun an ging es rauf und runter durch die Hügel, die ich normalerweise sehr gern laufe. In der Ferne erschien malerisch das Karwendel-Gebirge, und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie weit wir schon gelaufen waren (und auch, wie weit es noch ist!)
Während der ersten 30km hielten sich die Schmerzen sehr in Grenzen, danach wurde aber jeder Meter bergab ein kleines Martyrium. Obwohl ich ganz vorsichtig mit 7 Min/km losgelaufen war, wurde es immer schlimmer und leider so dominierend, dass ich die wunderschöne Landschaft um mich herum nur bedingt genießen konnte. Als ich mal wieder auf dem Zahnfleisch einen Hügel herunterkroch, kam ein Grüppchen Isarrunner vorbei, und ich bekam einige sehr gute Tipps: „Schuhe so weit aufschnüren wie möglich, dazu bei jeder Möglichkeit Wasser auf die Socken zur Kühlung!“. Das linderte in der Tat die Schmerzen erheblich. (Vielen Dank, Heike, vielleicht wäre ich ohne Deine Tipps gar nicht angekommen!) Trotzdem brauchte ich an diesem Tag ewig (Schnitt von 7:47min/km) und zweifelte wiederum, ob ich mit diesen (nun deutlich geschwollenen) Füßen am nächsten Tag würde starten können.
Am Abend konnte ich aber zum Glück einen Eisbeutel ergattern, und so stand ich am nächsten Morgen wieder am Start. Langsam ging es voran, und als ich etwa 15 km zurückgelegt hatte und sich die Schmerzen wiederum in Grenzen hielten, war alles klar: Ich wusste, dass ich es schaffe, zur Not würde ich wandern, rückwärts gehen oder was immer auch die Situation erfordert. Von diesem Zeitpunkt an war mein Kopf frei. Die Schmerzen waren nicht geringer als am Vortag, aber meine Überzeugung, dass ich es schaffen würde, ließ mich die Landschaft um mich herum und sogar das Laufen selbst wieder genießen. Schließlich ging es durch Scharnitz hindurch auf die letzten 12 km hinauf zu den Isarquellen. Rund 7 km vor dem Ziel passierte etwas Merkwürdiges: Von einem Schritt auf den anderen stand mir plötzlich das Adrenalin bis Oberkante Unterlippe. Mit einem lauten Fluch beschleunigte ich ohne Rücksicht auf Verluste, und von da an bis ins Ziel merkte ich nicht mehr viel. Ich weiß noch, dass ich an dreimal an kleinen Schneefeldern vorbeikam, wo ich mir jeweils Schnee in die Socken steckte, direkt auf die am meisten schmerzenden Stellen, ein göttliches Gefühl. An der letzten Verpflegung hielt ich kaum an, um den Adrenalinspiegel nicht sinken zu lassen, dann rannte ich schnaufend, fluchend und schreiend die letzten 4,2 km in knapp 20 Minuten. Im Ziel empfingen mich die schon eingelaufenen Isarrunner wie jeden mit Umarmungen, Schulterklopfen und Glückwünschen. Viele hatten die Füße in der eisigen Isar, mehrere nahmen bei 7°C Wassertemperatur sogar ein Vollbad. Der einzige Wehmutstropfen war, dass Sabine und Nick bei meinem Zieleinlauf nicht dabei sein konnten, weil der Weg zur Isarquelle nur mit Ausnahmegenehmigung zu befahren ist und die beiden keine Möglichkeit gefunden hatten, zur Quelle zu kommen.
Am Ende belegte ich den 22. Gesamtrang in 36:27 Std.. 49 Läuferinnen und Läufer erreichten die Isarquelle. Der Sieger Rene Strosny war insgesamt fast 10 Stunden schneller als ich.
Weitere Daten sind unter www.isarrun.com nachzulesen. Ich möchte an dieser Stelle lieber meine persönlichen Eindrücke wiedergeben: Neben dem Stolz, die körperliche Leistung erbracht zu haben, war die beeindruckende Erfahrung, die ich von der Isar mitgenommen habe die, dass ein Wettkampf wie dieser noch viel mehr Kopfsache ist, als ich es erwartet habe. Man fällt in tiefe Löcher, erlebt aber auch unglaubliche Hochphasen, in denen man sich selbst neu kennen lernt. Auch die ganz harten Phasen kann man bewältigen, und irgendwann geht es wieder bergauf. Diese Binsenweisheit erfährt man auf ganz plakative Art und Weise, dadurch ist sie gut zu merken und kann als positive Lebenserfahrung verbucht werden.
Das ist doch was.
© Oliver Arndt, 06.06.2006
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Kommentare zu diesem Bericht:
- Glückwunsch zum Lauf und zur Familie! Florian 07-06-2006 09:36
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