Alle zeigen - Bericht von Martina Hausmann zum Ultrawoche Hallsberg:
Martina Hausmann , 18.08.2008

6-Tage-Bahnrennen Hallsberg/Schweden - Die Frau, die Yiannis Kouros jagt

Auf nach Hallsberg
Mein drittes Mehrtagerennen innerhalb von vier Monaten steht an. Da es sich um eine neue Veranstaltung handelt und ich wieder einmal im Alleingang unterwegs sein werde, versuche ich so viele Informationen einzusammeln wie möglich. Der Organisator Kaj Jensen zeigt sich im Vorfeld sehr kommunikativ via Email. Er sagt mir eine Zeltunterkunft zu und schickt das schwedische Zugticket passend zu meinem Flug. Ich erfahre, dass allen Teilnehmern täglich ein Wäscheservice zugesagt wird und kulinarische Extrawünsche nach Möglichkeit erfüllt werden. Die Tartanbahn soll auch nach heftigen Regenfällen trocken bleiben. Völlige Dunkelheit wäre nur zwei Stunden täglich zu erwarten. Mit jeder Mail steigt die Vorfreude, und die anstrengende Hitzeschlacht vor fünf Wochen in Antibes ist schon fast vergessen.
Zur Geisterstunde, eineinhalb Tage vor dem Start, treffe ich in Hallsberg ein. Kaj begrüßt mich, bringt mich zu Stadion und Zelt. Es steht logistisch praktisch in der Nähe der späteren elektronischen Rundenzählung, keine 5m von der Bahn entfernt. Es ist riesig groß, eine Campingliege steht bereit, von Teelichtern heimelig beleuchtet. Ruckzuck bin ich eingeschlafen.
Der nächste Tag vergeht rasant mit der Begrüßung der übrigen Teilnehmer und der Einrichtung des Zeltes. Eine kleine Küche steht uns bei den Sporthallen auf dem Stadiongelände zur Verfügung. Von der bereits angelieferten Wettkampfverpflegung dürfen wir uns gerne bedienen. Eher aus sozialen Gründen gehen wir mittags und abends ins Restaurant. Aus Deutschland sind Jutta Jöhring und Peter Ludden angereist, beide integrieren das Rennen in ihren anschließenden Sommerurlaub. Herzhaft-herzlich begrüße ich Glen Turner aus Amerika, den ich von meinen Silvesterrennen in Arizona recht gut kenne, sowie Kjell-Ove Skoglund, den ich in Erkrath schätzen gelernt habe. Star der Veranstaltung ist der legendäre Yiannis Kouros, der sich allerdings mit seinen zwei Helfern von den übrigen 18 Teilnehmern von Beginn an ziemlich abschottet. Niemand hat bis dato gewusst, dass er teilnehmen wird. Er ist unangemeldet erschienen, um sicher zu gehen, dass kein ernst zu nehmender Konkurrent wie Wolfgang Schwerk am Start ist.
Am Vormittag des Starttages versucht jeder, noch eine oder zwei Mützen voll Schlaf zu bekommen. Es hat sich eingeregnet, und zur Wettkampfbesprechung ergießen sich wahre Wolkenbrüche über Hallsberg. Bei der Besprechung meldet sich Yiannis zu Wort. Er plädiert dafür, dass es sich bei einem Mehrtagerennen um ein Rennen handelt, bei dem also gerannt werden müsse. „Racewalker“ seien eher fehl am Platz und müssten Bahn drei oder vier benutzen. Weiterhin setzt er sich vehement dafür ein, dass Schrittmacher nicht erlaubt werden und Regelverstöße allgemein auch geahndet werden müssten. Diese und ähnliche selbstverständliche Dinge bekomme ich kaum mehr mit. Kaj selbst fühlt sich glatt an die Wand geredet. Wie von der Tarantel gestochen fahre ich hoch. „Gehen ist nicht erlaubt? Dann kann ich gleich wieder heimfahren!“ Jetzt findet er seine Sprache wieder und beruhigt mich umgehend.
Stark gewöhnungsbedürftig wird das schwedische Chipsystem sein. Die großen, runden Scheiben müssen waagerecht auf dem Schuh befestigt sein!
Erster Tag: Folgenreiches Duell zwischen Glen Turner und Yiannis Kouros
Mit dem Start um 12 Uhr fallen erst einmal alle Sorgen ab. Die schwedische Wundertartanbahn ist tatsächlich absolut wasserfrei, und gegen das Wasser von oben hilft der Schirm. Mit diesem laufe ich frech auf der Innenbahn, halte ihn aber so weit nach innen, dass er nicht über meine Schultern hinauskragt und niemanden beim überholen behindert. Sogar Yiannis schimpft nur einmal, dafür lautstark. Zu sehr ist er in ein kleines Duell mit Glen vertieft. Ich wundere mich, da ich von beiden souveräneres Auftreten erwartet hätte. Später erfahre ich, dass Glen in früheren Jahren Betreuer von Yiannis war, von diesem beschimpft wurde und – zurückschimpfte. Seitdem sind sich die beiden nicht ganz grün. Jedenfalls beschert das Duell dem Glen Magenprobleme, der Yiannis zieht sich eine ernste Beinverletzung zu. In der siebten Stunde ist der Spuk vorbei. Glen läuft langsam, Yiannis marschiert. Er marschiert auf der innersten Innenbahn und wird sie bis zum Rennende nicht mehr freigeben. Mir soll es nur recht sein. Nun wird sich niemand mehr daran stören, wenn ich ab dem zweiten Tag dort mehr oder weniger schnell gehen werde.
Am ersten Tag läuft es bei mir ausgezeichnet. Den Schirm brauche ich von Stunde zu Stunde weniger. Schließlich lohnt sogar ein Schuhwechsel. Das Babypuder, das ich hier zum ersten Mal teste und auf die Schuheinlagen gestreuselt habe, hilft tatsächlich gegen feuchte und wunde Füße. Allerdings ist das Rennen erst 9 Stunden alt. Stockdunkel ist es tatsächlich nur zwischen Mitternacht und 2 Uhr früh. Davor und danach gibt es endlose Dämmerungszeiten. Diese Übergangszeiten liebe ich. Nach Ablauf der 24 Stunden habe ich für mich gute 156,8 km beisammen. Damit bewege ich mich bereits im vorderen Mittelfeld.
Zweiter Tag: Läufer, Igel und Regenwürmer bevölkern die Tartanbahn
Die erste große Pause steht an. In dieser ausgedehnten Umzieh- und Erfrischungspause vom Bett aus entspanne ich mich wunderbar. Für jeden Handgriff lasse ich mir gemütlich Zeit, immer wieder betont gut ausatmend. Eine Stunde später stehe ich wieder auf der Piste.
Gerade kommt Glen vorbei. Wir unterhalten uns ausführlich. Er ist frisch gebackener Weltrekordhalter im Extrameilendurathon mit 103 Stunden pausenloser Fortbewegung. Ein solches Unternehmen würde mich unwahrscheinlich reizen. Das wäre wirklich ein echtes Unternehmen nach dem Motto: Wer schläft, hat schon verloren. Ich bin natürlich begeistert, und wir schmieden diesbezüglich Zukunftspläne. Die Zeit vergeht im Sauseschritt, und wir bewegen uns mit ihr im gleichen Takt. Glens Magen beruhigt sich allmählich.
Wir haben ideales Laufwetter; es ist kühl, leicht bewölkt, ein bisschen windig. Schon beginnt wieder die Abenddämmerung.
Fast alle Läufer scheinen noch fröhlicher Stimmung zu sein. Leider haben Jutta und Peter bereits Probleme mit Bein- und Fußsehnen. Dabei bewegen sie sich so locker und gut gelaunt dahin. Es macht Freude zuzuschauen, wenn sie mich einmal mehr überrunden. Sie wird am Ende 500km überbieten können, er wird sich über 10 Marathons freuen.
Indes geht es Yiannis ganz offensichtlich schlechter; er marschiert recht langsam und beschimpft unentwegt seine Betreuer. Doch diese nehmen alles gottergeben hin. Manch einer bezeichnet das erstaunliche Pärchen als Sklaven des Griechen. Er schiebt gewissermaßen den Vorsprung gegenüber mir von 20 – 30km aus den ersten sieben Stunden vor mir her. Yiannis macht niemals richtige Pausen. In den wenigen Minuten Laufunterbrechung zum Schuhwechsel oder dergleichen kann er sich offenbar komplett entspannen; alle Handgriffe werden ihm getan. Ich gehe schneller, pausiere aber alle sechs Stunden nach dem Richtungswechsel zwischen 30 – 60 Minuten. Beide Methoden gleichen sich aus.
Unterdessen gibt es eine aufregende Jagd um den zweiten Platz zwischen dem Schweden Christian Ritella und mir. Man teilt mir mit, dass er ein gefährlicher Bursche sei, jung, unbekümmert, guter Triathlet. Er bekommt Emails mit dem Wortlaut, die Hausmann ist sehr gefährlich, da sie in den letzten Tagen läuft wie in den ersten Tagen. Zufällig haben wir einmal das gleiche Tempo, und wir berichten uns darüber. Lachend streiten wir, wer nun gefährlicher sei.
Meine Pause nach dem mitternächtlichen Richtungswechsel fällt schön in die kurzen Stunden Dunkelheit und kürzt diese nochmals ab. Zwischen ein Uhr und vier Uhr morgens bin ich mit Yiannis allein auf der Piste. Alleine? Wir bekommen Gesellschaft in Form von Igeln, denen es offenbar auf der Tartanbahn recht behagt. Ich bewundere die Schnelligkeit der Tiere. Sollten sie es irgendwann schaffen, mich zu überholen, werde ich mich unverzüglich ins Bettchen legen. Jutta setzt diese Schwelle später für mich niedriger an, auf die vielen Regenwürmer deutend. Ich frage sie, ob sie all die toten Würmer oder die wenigen lebenden meint. Ich kriege mich wieder nicht vor lachen und verschlucke mich fast am leckeren hausgemachten Johannisbeerstreuselkuchen. Diese Verpflegungsstation lässt wirklich keine Wünsche offen! So vergeht der zweite Tag kurzweilig mit 128,4km. Das ergeben285,2 km für 48 Stunden.
Dritter Tag: Werde ich erstmals 400 Kilometer für 72 Stunden überbieten können?
Sehr zufrieden verschwinde ich zur Pause im Zelt. Ich bin schon gespannt, ob ich heute 400km überbieten kann…mein bestes (Zwischen)Ergebnis bis dahin für 72 Stunden. Der Wäscheservice funktioniert übrigens hervorragend. Alle bis spätabends abgelieferte Kleidung liegt morgens frisch gewaschen im Zelt. Leider bin ich zu faul, alles immer gleich richtig einzusortieren. Das hätte mir in den letzten Tagen manche Sucherei erspart. Aber ich versuche ja, aus jedem Rennen etwas zu lernen. Es ist wärmer geworden, aber immer noch leicht bewölkt und deshalb angenehm temperiert. Ich erfahre, dass auf Schweden eine Hitzewelle zurollt. Also verfestigt sich mein ohnehin omnipräsentes Vorhaben, aus jeder Minute des Rennens das Optimale zu machen. Leider ist der von mir favorisierte Kuchen aufgegessen. Am Verpflegungsstand frage ich die richtige Frau danach! Sie beteuert eifrig, sie würde bis zum nächsten Morgen wieder solche Kuchen backen.
Allmählich wird das Kilometersammeln mühsamer. Ich habe mich mittlerweile mit fast allen Teilnehmern unterhalten. Das Musikprogramm aus dem MP3 wiederholt sich alle acht Stunden. Nur nachts höre ich Radio, da dann das Programm nicht durch Werbung unterbrochen wird. Ich versuche, Kraft und Freude aus der Umgebung zu beziehen. Ich mache mir alle Energie bewusst, die in Gras und Blumen steckt, und stelle mir vor, dass ich Teil dieser Natur bin. Die Freudenjuchzer aus dem Spaßbad nebenan ignoriere ich dagegen lieber. Zu sehr zieht es mich ohnehin ins kühle Nass. Bei allen mentalen Verrenkungen komme ich gut voran.
Spätabends informiert uns Kaj darüber, dass die kälteste Nacht des Rennens bevorsteht. Der Himmel hat vollständig aufgeklart. Ich ziehe also zur Mitternachtspause den Trainingsanzug über und schwitze nicht mal damit. Verblüfft stelle ich fest, dass ich für alle meine 6-Stunden-Laufabschnitte bis zur nächsten Richtungswechselpause mindestens 30km zurücklege! Am frühen Morgen, mit Lieblingskuchen in der Hand, sagen meine Hochrechnungen für den Tag über 400km voraus. Es sollen 406,8km werden!
Vierter Tag: Die Frau, die Yiannis Kouros jagt…
Ich könnte überglücklich sein. Doch es stellt sich ein Problem: Hitze!! Der Vorteil der kurzen Nächte verkehrt sich nun ins Gegenteil. Mittagsruhe im Zelt? Ausgeschlossen. Ich könnte mich ebenso gut in einen Backofen legen und bei lebendigem Leib verschmoren. Also bitte ich Kaj um eine Matratze, die ich mir hinter das Zelt in den Schatten lege. Nach einer halben Stunde ist der Schatten weg; in greifbarer Nähe nichts mehr als Sonne. Das sollte meine erste Schlafpause sein!? Dann eben nicht. Zurück auf der Piste fühle ich mich trotzdem überraschend erfrischt. Mit knapp 5,5km/h komme ich leidlich voran, das Spaßbad nebenan wieder angestrengt ignorierend. Die Bahn ist ziemlich verwaist. Viele halten Siesta. Der ewig schimpfende, ewig anwesende Yiannis hat seinen gewohnten Vorsprung. Christians Pausen werden allmählich länger; er bleibt mehr und mehr gegenüber mir zurück. Glen verschwindet immer öfters zu Pausen, sich jedes Mal ein größeres Comeback auf der Piste vornehmend, welches dann in der nächsten Pause versandet. Jutta und Peter kennen keine Trödelei. Wenn sie da sind, fliegen sie regelrecht an mir vorbei! Mein Zelt ist zwar früh als erstes in der Sonne, abends dafür zuerst im Schatten. Nach dem Richtungswechsel um 18 Uhr ist es schon wieder betretbar. Endlich kann ich mich ausführlich erfrischen. Ich stelle fest, dass Babypuder auf Schuheinlagen nicht nur gegen feuchte, sondern auch gegen überhitzte Füße hilft. Gegen 19 Uhr wird es spürbar kühler. Ich atme auf. Den ersten heißen Tag habe ich ganz gut überlebt. Doch gemäß der Prognosen soll es noch viel toller kommen, Ach was! Ich sollte lieber den Augenblick genießen!
Während meiner Mitternachtspause verschlafe ich die ersten 30 Minuten des Rennens. Gerade bekomme ich wieder eine Aufmunterungsemail zugereicht. Aha! Ich lese, ich bin die Frau, die Yiannis Kouros jagt! Gutes Stichwort. Irgendwie muss ich mir die Nacht ja kurzweilig gestalten. Der Grieche scheint sich tatsächlich vor mir zu fürchten; er beschimpft nun nicht nur seine Helfer, sondern auch mich lautstark quer über die Piste. Ich sage gar nichts und überhole in großem Bogen. Im weiteren Verlauf der Nacht ist niemand außer uns auf der Strecke! Nun benutzt er seine Helfer rund um die Bahn als Schrittmacher, lässt sich auch gerne links und rechts abstützen. Niemand verwarnt ihn. Irgendwann wird es mir zu dumm, ich protestiere, er bekommt seine Verwarnung. Das Spielchen wiederholt sich mehrmals. Sein Abstand zu mir schrumpft auf 15 - 20 Kilometer. Hoffentlich kommt kein Igel bei unserer wilden Jagd zu Schaden!
Ich merke kaum, wie hungrig ich bin. Endlich bestelle ich mir eine Suppe. „Welche Suppe bitte?“ Mit einer Auswahl habe ich eher nicht gerechnet. Verdutzt antworte ich: „Jede Suppe ist recht!“ In der folgenden Runde reicht man mir eine bläuliche Brühe. Ich schaue wie ein Fragezeichen. „Das ist Blubarsup!“ - Hä? Was für ein Geblubber? Vorsichtig koste ich und trinke schmatzend aus in tiefen Zügen. Christian erklärt mir später, dass ich Blaubeersuppe getrunken habe, das Nationalgetränk der Schwedischen Schilangläufer. Um 6 Uhr früh verschwinde ich im Zelt, erhole mich in Erwartung eines weiteren heißen Tages etwas. Die Zeit bis zum Mittag wird mühsam. Nebenbei überlege ich, wie ich die Mittagspause zu einer lohnenden gestalten kann, und bespreche mich mit Kaj. Am Ende dieses aufregenden Tages bin ich 117,6km weiter gekommen und stehe bei 524,4 Kilometern.
Fünfter Tag: Ich pralle gegen eine Wand von Hitze!
Die Stimmung erreicht in der brütenden Mittagshitze einen Höhepunkt, als die 12-Stundenläufer starten. Sie rennen auf größerer Runde, benützen aber für 300m die äußerste Spur der Tartanbahn. Ich entfliehe dem Trubel eiligst. Kaj geleitet mich zu einem kleinen Zimmer, das an die Sporthallen angrenzt. Die wichtigsten Utensilien wie Babypuder, Sonnencreme, frische Socken und Wecker nehme ich mit. Aufatmend lege ich mich lang hin. Der Wecker ist gestellt auf 13 Uhr. Leider werde ich ihn gar nicht brauchen. Ich fahre hoch! Jemand platzt herein, um nebenan zu duschen. Kaum ist er draußen, schlurft Christian herbei, der sich stöhnend zu seiner Matratze bewegt. Kaum tritt Ruhe ein, klingelt mein Wecker. Das war’s. Ich finde irgendwie zurück in die Senkrechte und auf die Bahn.
Dort pralle ich gegen eine wahre Wand von Hitze. Das kulinarische Angebot hat sich angepasst. Ich vernichte abwechselnd Wassermelonen, Eiscreme und Bier alkoholfrei mit Isogetränk und fein zerhackten Eiswürfeln. Yiannis kommt ohne Abstützen nun kaum mehr voran, der Oberkörper hängt fast waagerecht, selbst zum schimpfen ist er momentan zu müde, Toilettenbesuche ohne Betreuerhilfe werden unmöglich. Er macht wirklich niemals Pausen! Mir geht es trotz der Mittagspause hundserbärmlich. Ich habe den Eindruck, jemand trampelt auf meinem Kopf herum. Dabei laufe ich doch mit den Füßen! Jeder normale Sechstageläufer klagt über Bein- und Fußschmerzen! Ich habe trotz meines Knieschadens (Arthrose Grad IV) keinerlei orthopädische Probleme, nicht einmal Problemchen. Mein Kopf indes ist schier am platzen. Ich suche den Rennarzt auf. Wie auch schon in Antibes, bekomme ich ein leichtes Kopfschmerzmittel, und außerdem soll ich verstärkt Isogetränke zu mir nehmen. Ich befolge den Rat, mische Bier nur noch zu Radlerschorle, und es geht mir etwas besser. Forciertes Marschieren vertrage ich allerdings nicht. Doch entspanntes Gehen bringt mich noch 5km/h weiter. Während ich mit meinem Problem herumlaboriere, stürzt sich das schwedische Fernsehen auf mich mit einfühlsamen Fragen dieser Art: „Sind Sie müde? Auf welche Art und wo sind Sie müde? Wie fühlt sich die Müdigkeit an? Empfinden Sie momentan Spaß?“ Mmmmpf. Sichtbar mit Genuss bewegt sich in der Affenhitze nur Kjell Damstedt, der in der heißesten Zeit mit seinen 67 Jahren herumspringt wie ein junger Hirsch. Er ist ausgesprochen tagaktiv; bei Temperaturen unter 30C bekommt er Frostbeulen! Ich sehne nur noch meine 18-Uhr-Pause herbei.
Irgendwas in meiner Umgebung hat sich verändert. Eine unheilvoll anmutende Ruhe liegt über dem Stadionbereich. Selbst Jutta läuft mit ernster Mine herum. Die Anfeuerungsrufe der Zuschauer erscheinen sparsamer. Im Spaßbad nebenan tummelt sich keine Menschenseele. Vollkommen unverständlich an diesem lauen Sommertag! Nach und nach sickert die Nachricht durch: Ein kleines Kind wäre beinahe ertrunken, konnte wieder belebt werden, wird aber einen bleibenden Hirnschaden behalten. Ich glaube, es war der Sohn eines Norwegers, der irgendwie an dem Rennen beteiligt war. Ich bekomme eine Gänsehaut und vergesse kurzzeitig meine wieder einsetzenden, starken Kopfschmerzen.
Nach meiner kurzen Abendpause um 18 Uhr steche ich in irgendeine Richtung Zähne putzend los. „Was? So viele Geisterläufer unterwegs?“ Kaj dreht mich herum und benötigt eine volle Runde, mir zu erklären, dass ich selbst die Geisterläuferin war! Ich habe wohl doch viel zu viel Sonne abbgekommen! Einmal mehr erscheint mir die Bahn so still. Diesmal eher angenehm friedlich. Richtig: Yiannis ist weg!! Sein Betreuer schlendert ziellos auf dem Stadionrasen herum, die Betreuerin unterhält sich entspannt und locker mit jedermann, als hätte sie nie was anderes gemacht. Yiannis finde ich liegend vor seinem Karavan. Als er wieder unterwegs ist, unterhält er sich freundlich und mit jedermann. „Sehr, sehr gut“, murmelt er bei einer meiner Überrundungen. Haben die sich für eine Weile Urlaub genommen? Einsicht oder Ruhe vor dem Sturm? Ich beobachte das Treiben freudig, aber skeptisch. Indes die Freude dauert nicht so lange.
Schließlich fragt mich Yiannis ärgerlich, ob es mir Spaß macht, einen verletzten und verängstigten Mann zu überholen? K.-G. Nyström besitzt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Niemand darf überholen“. Vielleicht sollte er das dem Griechen schenken? „Wenn Du so verletzt bist, solltest Du das Rennen beenden“, denke ich. Der Mythos Yiannis Kouros lässt offensichtlich weder aufgeben noch verlieren zu. Ich sage jedoch gar nichts und blicke recht unschuldig drein. Sonst wird er mir noch handgreiflich? Ab und zu lasse ich ihn verwarnen wegen unerlaubter Hilfestellung. Das ist mir schon fast zur Routine geworden. Disqualifiziert wird er nicht; jeder hat vielleicht Angst vor seinem Namen. Gegen Mitternacht habe ich immer noch Kopfschmerzen. Ich beschließe, sogar 1 ½ Stunden zu ruhen; irgendwie spüre ich noch die ganze Hitze des Tages in mir. Das muss heraus! Ich kann auf diese Überhitzung morgen nicht die nächste setzen! Das gäbe einen Supergau!! Ich schaffe es, zur Ruhe zu kommen. Die Hitze entlädt sich in Schweißausbrüchen. Ich kann anschließend sogar etwas schlafen! Wieder unterwegs, stoße ich zuerst auf Jutta. „Du zur Unzeit unterwegs? Legst Du heute eine Nachtschicht ein?“ Anstatt eine Frage zu beantworten, deren Antwort offensichtlich ist, informiert sie mich, was während meiner Pause geschah: „Du hättest Yiannis sehen sollen! Sowie Du verschwunden bist, hat er richtig Gas gegeben!“ Ich schaue im Computer nach. Er hat schon wieder 18 Kilometer Vorsprung! So hat er es geschafft, fast 6km/h zurückzulegen? Tatsächlich gelingt es mir momentan kaum, ihn zu überrunden. Endlich wird er langsamer, dafür beschimpft er mich wieder quer über die Bahn hinweg und Schrittmacherdienste sind wieder aktiviert. So verbringen wir eine weitere kurzweilige Nacht in trauter Zweisamkeit.
Ich nehme mir fest vor, von nun an keine längere Pause mehr einzulegen. Meine längste Laufunterbrechung bis dahin betrug immerhin 90 Minuten! Bis zum Mittag komme ich auf 638km. Mit nur 113,6 km für den 5. Tag erhalte ich die Quittung für die Hitzeschlacht. Andererseits bin ich nur noch knapp 106km von meinem Deutschen Rekord im 6-Tagelauf auf der Bahn entfernt.
Sechster Tag: Die Frau, die Yiannis Kouros nicht erreicht
Ich peile 750km an, applaudiere geschwind den startenden 24-Stundenläufern und verschwinde eilig zur Mittagpause. Kaj versichert mir, dass mich diesmal niemand stören wird, und Christian hätte nun ein anderes Zimmer. Ich fühle mich schon wieder fürchterlich überhitzt. An meinen kühlen Raum grenzt bekanntlich eine Dusche an. Kurzerhand mache etwas, was ich noch nie getan habe: Ich dusche minutenlang, und zwar kalt! Welch ein Genuss!! Auf der Matratze schwitze ich noch ein bisschen nach, und endlich gelingt Minutenschlaf. Vor 13 Uhr bin ich schon wieder unterwegs. Die Frischlinge des 24-Stundenlaufes beleben die Multidayarena mit neuem Schwung und frischem Duft. Sie benutzen die gleiche Runde wie zuvor die 12-Stundenläufer. Es macht Freude, die gebündelte unverbrauchte Kraft der elegant dahinschwebenden Läufer zu betrachten. Es hilft über die eigene Schwerfälligkeit hinweg. Wir feuern uns gegenseitig an. Fangruppen bilden sich. Eigentlich macht mir nun die Hitze gar nichts mehr aus. Liegt es an bereits aufkommender Endzeitstimmung? Oder gewöhnt sich der Mensch wirklich an alles? Jedenfalls kühle ich innerlich erfolgreich mit allgegenwärtiger Eiscreme, Wassermelone und Radler mit Eisstückchen. Für die äußerliche Anwendung stehen ständig frische Eiswürfel bereit. In eiskaltes Wasser halte ich alle halbe Stunde meinen dicken Baumwollhut mit breiter Krempe. Bei Bedarf drücke ich mir diese Krempe fest in den Nacken und presse sie aus. Es wirkt auch perfekt gegen Müdigkeit! Doch die stellt kein ernstes Problem mehr dar; zu aufregend ist die Jagd nach eigenem Bahn-Rekord und dem Griechen.
Trotzdem lege ich um 18 Uhr meine obligatorische Pause ein. Nach stundenlangem Dauergebrauch wird die Muskulatur ganz schön steif, und die Füße schreien geradezu nach einigen Minuten Frischluft. Ich freue mich bereits auf die langen Dämmerungsstunden und die dazwischen liegende kurze Nacht. Diese Zeit erscheint mir dank der 24-Stundenläufer kurzweiliger denn je. Plötzlich stoße ich mit meinem Fuß gegen etwas Weiches! Meine Güte, die Igel habe ich ganz und gar vergessen! In der nächsten Runde ist er jedenfalls verschwunden; die Kollision hat dem Tier offensichtlich nicht geschadet. Ich denke mit Schrecken an all die Sandalen- oder Badeschlappenträger unter uns! Besonders das Modell von K.-G. Nyström, in Schweden unter dem Namen „Foppatoffel“ erhältlich, hat im Kampf gegen überhitzte Füße Schule gemacht und Nachahmer gefunden: Plastikclogs, oben mit großen runden Löchern, darauf propellergleich hübsch waagerecht wie vorgeschrieben der Chip befestigt. Dieses Modell könnte sogar igelstachelsicher sein. Sogar Yiannis wird kurzzeitig mit Sandalen, allerdings herkömmlicher Art, gesichtet. Was soll ich sagen? Meine Babypudermethode wirkt immer noch ausgezeichnet!
Heute dauert es bis 21 Uhr, bis es leicht fühlbar abkühlt. Unglaublich! Um Mitternacht lege ich mich, sehr zum Kummer von Yiannis, nur kurz hin! Er ahnt offenbar Schlimmes; ich muss wieder einige Male verwarnen lassen. Seine Betreuer stehen öfters sorgenvoll rechnend am Computer. Das motiviert mich, zugegeben. Jedenfalls fühle ich mich putzmunter. Da beginnt Yiannis ein scheinbar freundliches Gespräch mit mir! Wir unterhalten uns einige Runden lang. „ Du wirst Deinen Rekord spätestens gegen 10 Uhr überboten haben. Dann erst wird es richtig heiß, und Du kannst gemütlich duschen gehen. So würde ich es machen.“ Ich verschlucke mich fast an meinem Radler. „Du läufst wunderbar. Nur Deine Kämpferei kann ich nicht akzeptieren! Kämpfen ist etwas für Sprinter. Ultras sind Solisten. Ich selbst laufe friedlich, gebe mein Bestes, und schaue entspannt, was die anderen so machen.“ - „…solange mir niemand zu nahe kommt…“, vervollständige ich die Rede gedanklich. Hält der Kerl mich für blöd??? Laut sage ich: „Ich werde meinen Rekord so hoch wie möglich machen. Mein letzter hielt nämlich nur drei Monate. “ Scheinheilig und schlagfertig bin ich auch, wenn’s drauf ankommt. Nichts wie weg! Flucht nach vorne!! Ich verdrücke mich um 6 Uhr früh denkbar kurz. Nachfolgend erlebe ich den Flow meines Lebens. Es läuft und läuft und läuft!!! Yiannis wird wieder umfassend gestützt und begleitet. Mit einem Satz bin ich bei Kaj im Computerraum! „Es reicht! Diese Veranstaltung hat ein IAU-Label. Ich will außerhalb der Verpflegungszone keinen Betreuer mehr bei Yiannis sehen! Muss ich das erst bei der IAU anzeigen? Und für diese letzten 5 Stunden wünsche ich selbst eine Hilfe am Verpflegungsstand!“ Ich schieße wieder heraus. Die Aktion hat keine zwei Minuten gedauert, zeigt aber endlich umfassende Wirkung. Die mir zugeteilte Betreuung reicht mir alles Gewünschte an, füllt mir meine Flaschen auf, hilft sogar beim allerletzten Schuhwechsel, ruft mir Tempo und Kilometerstand zu. Da beobachte ich, dass Yiannis’ Betreuer heftig herumdiskutieren. Wenig später macht mein neuer Betreuer ein ganz seltsam abgeklärtes Gesicht. „Ich kann jetzt nichts mehr machen. Ich habe zu tun.“ So?! Das soll ich jetzt glauben?! Ein Schalk, wer Böses dabei denkt!! Anstatt mich zu ärgern, laufe ich zur Höchstform auf. „Na wartet! Jetzt erst recht!“ denke ich. Ich bewege mich mit 6 - 7km/h pro Stunde und überrunde Yiannis viermal bis sechsmal pro Stunde. Ich erfahre noch, dass ich um 10 Uhr meinen alten Rekord plattmache. „Ich versuche, an 760km heranzukommen!“ rufe ich. Schließlich bewege ich mich wie im Traum. Mein Sturz von der Tartanbahn über die Innenabsperrung frontal auf den weichen Rasen ruft mich vorübergehend – zum Glück sanft und folgenlos – auf den Boden der Tatsachen zurück. Zuschauer feuern mich an ohne Ende. Yiannis’ Betreuer rechnen pausenlos und verzweifelt vorm Computer, treten von einem Fuß auf den anderen. Er selbst ist sogar zum Betreuer schimpfen zu platt. Zuletzt weiß ich weder meine Kilometer, noch meinen Abstand zum Griechen. Ich fühle mich tatsächlich schwerelos schwebend! Ein wunderbarer Zustand, der doch schon seit dem frühen Morgen dauert, sich steigert und steigert! In der letzten möglichen Runde fliegt Mr. Sunman Kjell Damstedt vorbei. „Ich komme mit!“ Mann oh Mann, ist der Mann schnell! Ich schnaufe und pruste. Es ist nicht zu schaffen. Die Zuschauer quieken vor Vergnügen. Ich bleibe zurück.
Die Gedenkminute
Die allerletzten Meter gehen alle Hand in Hand. Ich stoße gerade rechtzeitig dazu. Diese letzten Meter sind dem Andenken des norwegischen Buben gewidmet, der beinahe einen Steinwurf entfernt ertrank.
Finale
Schon ertönt der Schlussgong. Wir liegen uns in den Armen mit Tränen der Freude, der Erschöpfung, der 10000 anderen überwältigenden Gefühle. Da versinkt alles um mich, es flimmert vor den Augen. Ich kann mich gerade noch in den Schatten retten. Nun erst erfahre ich, dass ich 756,4km zurückgelegt habe, fast 13km mehr als jemals zuvor. Yiannis habe ich gerade mal um 2,4 Kilometer verfehlt.
Weitere Nationalrekorde (6-Tagerennen/Bahn) sind gelaufen worden: Christian Ritalla, 3. Gesamtplatz, erreichte 701,6km für den neuen Schwedischen Reokrd. Tom Hendriks, 4. Gesamtplatz, erlief 652,4km für Holland und Aku Kopakkala stellte mit 565,2km einen Finnischen Rekord auf. Nationale Altersklassenrekorde erreichten Glen Turner und Yiannis Kouros.
Ausblick
Im nächsten Jahr sollen alle kürzeren Rennen bis hin zum 24-Stundenlauf stattfinden. Ein 6-Tagerennen ist für 2010 oder 2011 wieder geplant. Nach der gelungenen Premiere hoffe ich sehr, dass Organisatoren und Helfer sich bis dahin gut erholt haben und neue Energie finden, dem Mehrtageläufer eine ähnlich großartige Veranstaltung zu bieten.
Alle Ergebnisse, mehr Informationen, weitere Fotos unter: http://www.lekeberg.eu/uv/UV.htm



© Martina Hausmann, 18.08.2008

Weitere Info's und Berichte zum Lauf:


Kommentare Kommentare zu diesem Bericht:
 

Du bist nicht angemeldet und kannst somit keine Kommentare schreiben!

Falls du bereits als User registriert bist, kannst du dich hier anmelden, ansonsten müsstest du einmalig eine "Registrierungsprozedur" über dich ergehen lassen...